Flüchtlingsströme in Europa : Von wegen arme Afrikaner
- -Aktualisiert am
Diese Bilder bleiben trotzdem echt: Flüchtlinge aus Afrika, Afghanistan und Syrien stehen Schlange bei der Essensausgabe im Auffanglager in Calais. Bild: Reuters
Die Flüchtlingsstatistik spricht eine andere Sprache als viele Bilder: Das Gros der Asylbewerber kommt aus Europa. Die meisten anderen sind Kriegsflüchtlinge aus wenigen Ländern. Das erfordert für die EU zwei politische Strategien. Eine Analyse.
In der öffentlichen Diskussion über Flüchtlinge spielen Zahlen meist nur in einer Hinsicht ein Rolle: Jeder Anstieg der Asylanträge wird genau vermerkt und dann häufig mit der Prognose verbunden, in Zukunft kämen sicherlich noch viel mehr Flüchtlinge nach Europa. Da die Asylbewerberzahlen in der Vergangenheit immer wieder geschwankt haben, ist das aber nicht gewiss.
Und es verstellt den Blick dafür, dass sich aus der Statistik viele Erkenntnisse über Fluchtursachen und Herkunftsländer ableiten lassen, die politisch relevant sind. Nicht alle entsprechen den Bildern, welche die deutsche Debatte bestimmen.
Wenn man beurteilen möchte, welche Wanderungsbewegungen derzeit auf Europa einwirken, bietet sich eine Auswertung der monatlichen Asylbewerberzahlen an, die vom Europäischen Statistikamt veröffentlicht werden. Eurostat, so heißt die Behörde, registriert die Zahl der Asylanträge in allen 28 Mitgliedstaaten. Allerdings werden Einwanderer, die in die Illegalität abtauchen, nicht erfasst.
Ruft man die Daten für das erste Halbjahr 2015 ab, dann zeigt sich zunächst einmal, dass die Vorstellung falsch ist, dass Asylbewerber vornehmlich aus Afrika kommen. Dieser Eindruck dürfte vor allem durch die Fernsehbilder vom Mittelmeer entstanden sein, auf denen vorwiegend Flüchtlingsboote mit schwarzhäutigen Passagieren zu sehen sind.
In Wirklichkeit waren in den ersten sechs Monaten Europäer die mit Abstand größte Flüchtlingsgruppe. 35 Prozent der Asylerstanträge, die in den EU-Staaten gestellt wurden, stammten von europäischen Staatsbürgern, überwiegend vom westlichen Balkan: Kosovaren (58.060 Anträge), Albaner (24.870), Serben (10.985) und Mazedonier (4625). Aus Nahost kamen dagegen 25 Prozent der Asylbewerber, aus Afrika 19 Prozent und aus Asien 17 Prozent.
Die Asylbewerber aus den kleinen Ländern des Balkans sind sogar für den überwiegenden Teil des Gesamtanstiegs der Bewerberzahlen im Vergleich zum Vorjahr verantwortlich. Im ersten Halbjahr 2015 wurden 338.530 Asylanträge in den 28 EU-Staaten gestellt, im ersten Halbjahr 2014 waren es noch 214.295. Das ist eine Zunahme von 58 Prozent. Alleine 75.365 zusätzliche Anträge, das entspricht 35 Prozent, kamen von Bürgern der vier Balkanstaaten.
Flüchtlingsunterkünfte : Kapazitäten am Ende
Man kann das unvermittelte Anschwellen dieses Flüchtlingsstroms besonders gut am Beispiel des Kosovos ablesen. Im ersten Halbjahr 2014 kamen monatlich nie mehr als tausend Asylbewerber aus der früheren serbischen Provinz. Im Januar 2015 waren es dann schon 13.860, im Februar 22.460. Danach gingen die Zahlen wieder genauso schnell zurück, zuletzt auf 1680 Anträge im Juni. Zur gleichen Zeit stiegen die Anträge von Albanern spürbar an. Die genauen Hintergründe sind nicht bekannt.
Die Entwicklung der Zahlen könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass hier Schlepperbanden an immer neuen Orten versuchen, Kunden zu gewinnen. Hat sich nach einiger Zeit in einem Land herumgesprochen, dass Antragsteller vom Balkan nur geringe Aussichten auf die Gewährung von politischem Asyl in der EU haben, nimmt das Interesse offenbar rasch wieder ab. Politisch bedeutet das, dass man mit Informationskampagnen in diesen Herkunftsländer wohl einiges erreichen kann.
Eine andere verbreitete Vorstellung lautet, dass wir in Zeiten einer neuen Völkerwanderung leben, in der das wohlhabende Europa zunehmend von den armen Völkern aus dem Süden überrannt wird. Auch das lässt sich mit der Statistik nicht erhärten. Zum einen fällt auf, dass das Gros der Asylbewerber aus einer relativ kleinen Gruppe von Staaten stammt.
70 Prozent der Asylerstanträge, die im ersten Halbjahr in der EU gestellt wurden, stammen von Bürgern aus nur zehn Staaten. Vier davon liegen in Europa, sechs davon außerhalb. Wenn man sich vor Augen führt, dass es in Afrika mehr als 50 und in Asien mehr als 40 Staaten gibt, ist die Statistik also kein Hinweis darauf, dass unsere Nachbarkontinente im Ganzen von einer Migrationswelle erfasst wären. Dafür gibt es in vielen Fällen auch gar keinen ökonomischen Grund. Asien führt die Wachstumsraten der Welt seit langem an, und selbst das südliche Afrika gehörte (wenn auch von niedrigem Niveau aus) in den vergangenen Jahren zu den am schnellsten wachsenden Regionen der Welt.
Flucht vor Krieg und Unterdrückung
Betrachtet man die Rangliste der wichtigsten Herkunftsländer ohne die Balkanstaaten, dann sieht man vielmehr, dass die Asylbewerber überwiegend aus Ländern kommen, in denen schwere politische Konflikte herrschen. So stammen weiterhin die meisten Asylbewerber in der EU aus Syrien (60250 im ersten Halbjahr).
Ohne Balkan folgen dann: Afghanistan (28.410), der Irak (16.420), Eritrea (11.025), Pakistan (10.235), die Ukraine (8900), Nigeria (8155), Somalia (7650), Russland (6135) und Gambia (5125). Unter diesen Ländern ist Gambia das einzige, in dem wirtschaftliche Not das Hauptmotiv für Migration sein dürfte. In den neun anderen der zehn Länder herrschen Bürgerkriege oder Unterdrückung (die russischen Asylbewerber sind oft Tschetschenen). Das muss nicht in jedem einzelnen Fall die Ursache für die Flucht in die EU sein.
Wie schnell sich gewaltsame Konflikte aber in der Asylbewerberstatistik bemerkbar machen, zeigt das Beispiel der Ukraine: Im Januar 2014, als die ukrainische Krise zu eskalieren begann, wurden in der EU gerade einmal 110 Asylanträge von Bürgern dieses Landes gestellt; im Januar 2015 waren es dann schon 1300. Das hat die Ukraine in der Rangfolge der Herkunftsländer von Platz 19 im ersten Halbjahr 2014 (3275) auf Platz 9 im ersten Halbjahr 2015 (8900) geschoben.
In Deutschland sind die Zahlen und Tendenzen nicht anders als in der EU insgesamt. Die wichtigsten Herkunftsländer sind dieselben, Unterschiede ergeben sich allenfalls in der Rangfolge. So war der Andrang vom Balkan in Deutschland im ersten Halbjahr noch etwas deutlicher zu spüren; Albanien liegt hier etwa auf Platz 3, während es in der EU insgesamt erst auf Platz 4 liegt. Auch in Deutschland stammten im ersten Halbjahr wieder die meisten Asylanträge von Syrern (30.120).
Zusammengenommen legt das den Schluss nahe, dass die EU bei der Bewältigung der Wanderungsströme zwei verschiedene Strategien verfolgen sollte: Auf dem Balkan, wo es keine Kriege und politische Verfolgung mehr gibt, hat man es offenbar mit verdeckter Wirtschaftsmigration zu tun, die entweder mit Abschiebungen unterbunden oder durch mehr Angebote zur Arbeitsaufnahme kanalisiert werden kann.
Gegenüber den Krisenländern in Nahost, Afrika, Asien oder auch der Ukraine erscheinen dagegen außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Maßnahmen sinnvoll, um die der Migration zugrundeliegenden Konflikte abzuschwächen.