BerlinHunderttausende. Was will Russland in Syrien? Bei Anne Will hatten sich überraschend viele Russland-Versteher eingefunden, um diese Frage zu klären.

Tote, Millionen auf der Flucht: Der Krieg in Syrien gehört zu den größten Tragödien der Gegenwart. Und doch können sich selbst die beteiligten Großmächte kaum zu einer langfristigen Lösung durchringen. Die Münchner Verhandlungen brachten jetzt immerhin einen Hoffnungsschimmer: Ein echter Waffenstillstand binnen einer Woche – das wäre nach fünf Jahren Tod und Vertreibung schon ein großer Durchbruch.

Das Thema beschäftigte am Sonntagabend auch Anne Will. Unter dem Titel „Bomben und Elend in Syrien – Lässt sich der Krieg stoppen?“ diskutierten Martin Schulz (SPD), die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz, der ehemalige Bundeswehr-General Harald Kujat, der Kriegsreporter Kurt Pelda und der syrische Arzt Marwan Khoury, ob die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe berechtigt ist. Und unter welchen Umständen möglicherweise sogar ein dauerhafter Frieden möglich sein könnte.

Die Russland-Versteher in der Überzahl

Einen großen Teil der Diskussion nahm die Rolle Russlands ein. Ohne Putin geht es nicht, mit ihm aber auch nicht – dieses Dilemma spiegelte sich auch im Meinungsbild der Runde wider. Die Russland-Versteher waren dabei in der Überzahl.

Besonders vehement argumentierte Gabriele Krone-Schmalz, die Ende der 1980er Jahre für die ARD aus Moskau berichtet hatte. „Bomben sind immer zerstörerisch“, sagte die Journalistin mit Blick auf die Kritik an den russischen Luftschlägen in Syrien. Allerdings würden bei den Russen plötzlich die zivilen Opfer gezählt. „Moralisierende Debatten sind leicht, wenn man im Warmen sitzt“, warnte Krone-Schmalz. Schwieriger, aber ehrlicher sei es, herauszufinden, was politisch möglich sei, und einen Interessensausgleich herbeizuführen. „Das ist nicht zynisch und nicht menschenverachtend.“ Eine „halbwegs funktionierende Welt“ werde es nur gemeinsam mit Russland geben.

Obama tatenlos, Europa gelähmt

Eine ähnliche Position nahm Harald Kujat ein. „Die russischen Bomben haben den Friedensprozess ermöglicht“, wiederholte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr seine unlängst in einem Interview geäußerte Sicht auf die russische Intervention in Syrien. Erst danach hätten sich die Konfliktparteien bewegt. Zugleich warnte auch Kujat davor, die Russen als böse Buben zu brandmarken. „Ich möchte die Schwarz-Weiß-Malerei vermeiden, dass die Russen immer das Negative und der Westen immer das Gute tut.“

EU-Parlamentspräsident Schulz ließ durchblicken, dass er vieles an Russland verabscheut. Trotzdem müsse man Präsident Putin als internationalen Akteur ernstnehmen. „Ich erkenne an, dass Russland ein wichtiges und mächtiges Land ist“, sagte Schulz. Man müsse mit Putin daher irgendwie zu Rande kommen. Das Problem sieht Schulz in Teilen als hausgemacht, weil der Westen lange Zeit kein Rezept für den Syrien-Konflikt gehabt habe. Während US-Präsident Obama kein besonderes Engagement gezeigt habe, sei die EU von unterschiedlichen Krisen gelähmt gewesen. „In dieses Vakuum ist Russland vorgestoßen.“

„Ethnische Säuberungen gegen Sunniten“

Eine gänzlich andere Sicht auf Russland hatte der Syrer Marwan Khoury, der Hilfslieferungen in sein Heimatland organisiert. „Die Russen töten mehr Menschen als das Assad-Regime“, sagte der Arzt. Die Menschen sehnten sich beinahe wieder nach den Zeiten, in denen es nur die Kampfjets der syrischen Armee waren, die Luftangriffe flogen. „Mein Land, meine Leute, meine Kinder sterben durch diese Bomben“, sagte Khoury. Dabei gehe es Putin nicht um den IS. „Die Russen wollen uns nicht befreien, sie wollen uns töten.“ Ziel der Intervention sei, jede Alternative zu Machthaber Baschar al-Assad zu vernichten, um ihn so an der Macht zu halten.

Kurt Pelda formulierte es noch drastischer. „Die Russen brauchen den IS, um die ethnischen Säuberungen gegen die Sunniten zu rechtfertigen“, sagte der Kriegsreporter, der noch im Oktober im Land war. Einen Waffenstillstand hält Pelda für unwahrscheinlich. Für echte Friedensverhandlungen sei ein militärisches Gleichgewicht nötig, das nur erreicht werden könne, wenn die „nicht-dschihadistische Opposition“ mit Waffen unterstützt würde. „Wenn wir Putin dort nicht stoppen, müssen wir das bald in Osteuropa tun“, schob Pelda eine drastische Warnung hinterher.

Flüchtlingskrise nur ein Randthema

Die Vertreibung von hunderttausenden Syrern kam in der Diskussion erst am Ende vor, wurde dann aber gleich zu einem Aufreger. Die Frage, ob Putin den Bürgerkrieg bewusst als Instrument nutze, um die EU und die Türkei mit steigenden Flüchtlingszahlen unter Druck zu setzen, wurde von Kriegsreporter Pelda unter empörten Einwänden der anderen Gäste bejaht. Putin habe erkannt, dass Europa schwach sei und die USA kein Interesse an der Angelegenheit hätten, sagte Pelda. „Wir dummen Europäer gucken zu und klatschen sogar noch. Doch wenn die Flüchtlingswelle bei uns ankommt, werden wir die Hände über den Köpfen zusammenschlagen.“

Wird es also auf absehbare Zeit keinen Frieden geben, allein schon, weil Russland und auch die Regionalmacht Iran daran kein Interesse haben? Martin Schulz, der nahe an den Verhandlungen der Syrien-Kontaktgruppe in München dran war, gab sich am Ende skeptisch. Die Stimmung sei angespannt gewesen. Eine Alternative sieht der SPD-Politiker aber nicht. „Der Weg, den wir gehen müssen, ist bitter.“ An vorbehaltlosen Verhandlungen mit allen Beteiligten führe nichts vorbei. „Auch wenn es wehtut.“