Gastkommentar

Europa wankt – rat- und führungslos

Die Europäische Union ist derzeit mit Krisen konfrontiert, die sich überlagern und verstärken. Wenn kein Umdenken im Krisenmanagement erfolgt, droht eine Desintegration.

Jürgen Stark
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Die Flüchtlingskrise ist nur eines der zahlreichen Probleme der Europäischen Union. (Bild: Ognen Teofilovski Reuters)

Die Flüchtlingskrise ist nur eines der zahlreichen Probleme der Europäischen Union. (Bild: Ognen Teofilovski Reuters)

Zunehmende Sorge breitet sich über den Zustand und den Zusammenhalt der Europäischen Union und des Euro-Raums aus. Zu gross und zahlreich sind die ungelösten Probleme: die nach wie vor schwelende und wahrscheinlich wieder eskalierende Krise des Euro-Raums, der drohende Brexit, die anhaltende Wachstumsschwäche und zunehmende nationale Egoismen, die unter anderem einen europäischen Ansatz bei der Bewältigung des Flüchtlingsansturms nahezu unmöglich machen. Diese Zusammenballung von Problemen überfordert die Politiker. Sie sind ratlos.

Zwar war der europäische Integrationsprozess seit den fünfziger Jahren nie geradlinig. Er ist durch viele Rückschläge und Krisen gekennzeichnet. Man denke an das Scheitern der Europäischen Verteidigungsunion, die «Politik des leeren Stuhls» Frankreichs in den sechziger und die «Eurosklerose»-Debatte in den achtziger Jahren. Die Überwindung dieser Krisen führte aber oft zu weiteren Integrationsschritten. Europa wurde dadurch nicht nur stärker, sondern auch attraktiver für andere Länder. Die Einheitliche Europäische Akte, der gemeinsame Binnenmarkt und der Euro sowie die schrittweise Erweiterung der Europäischen Union auf 28 Staaten stehen als Beispiele hierfür. Ist es dieses Mal anders?

Gefahr der Desintegration

Die Krisen überlagern sich. Sie eskalieren und drohen unkontrollierbar zu werden. Die Gefahr der Desintegration ist so gross wie nie zuvor. Populistisch leichtfertig wird der Eindruck erweckt, man könne viele der heutigen Probleme alleine und kurzfristig auf nationaler Ebene lösen. Die Verantwortung für die politische und wirtschaftliche Misere in einigen Ländern der EU wird auf «Europa» abgeschoben. Dabei sind die Schwierigkeiten unter Verstoss gegen die eigentlichen Integrationsziele weitestgehend durch Versäumnisse in der Vergangenheit selbst verschuldet. Der erreichte Integrationsgrad – zum politischen und wirtschaftlichen Vorteil aller – wird fahrlässig infrage gestellt mit unabsehbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen.

Seit zwei Jahrzehnten funktioniert das Tandem Frankreich-Deutschland nicht mehr reibungslos. Aber es würde von den anderen Mitgliedstaaten auch nicht mehr toleriert.

In der Vergangenheit haben überzeugende und charismatische europäische Persönlichkeiten über die Ländergrenzen und ihre jeweilige politische Heimat hinweg immer wieder Wege aufgezeigt, den Zusammenhalt zu stärken und zu vertiefen. Natürlich wurden viele erkennbare Risse im europäischen Fundament durch zusätzliches Geld provisorisch gekittet. Die Gefahr eines wirklichen Bruchs bestand aber nie. Das deutsch-französische Tandem funktionierte – trotz oft unterschiedlichen Zielen. Diese Führung, sei es durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, durch Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing oder durch Helmut Kohl und François Mitterrand, wurde von den anderen Mitgliedstaaten akzeptiert. Ein Grund dafür war, dass von deutscher Seite immer darauf geachtet wurde, die anderen Mitgliedstaaten «mitzunehmen».

Seit zwei Jahrzehnten funktioniert dieses Tandem nicht mehr reibungslos. Aber es würde von den anderen Mitgliedstaaten auch nicht mehr toleriert. Dennoch fiel Deutschland beim europäischen Krisenmanagement seit 2010 eine führende Rolle zu, ohne dass es diese beanspruchte. Völlig zu Unrecht werden aber solidere Staatsfinanzen und die notwendigen Reformen in den Euro-Volkswirtschaften als deutsches Diktat empfunden. Dies zeigt, dass auch nach vielen Jahren der Krise immer noch nicht verstanden wurde, welche politischen Hausaufgaben zu erledigen sind, um den Euro zu erhalten und seine Vorteile zu nutzen.

Deutschland als Bittsteller

Die Flüchtlingswelle hat die deutsche Führungsrolle geschwächt. Deutschland ist in Europa zum Bittsteller geworden. Angesichts verstärkter nationaler Egoismen und des Versagens der europäischen Institutionen ist niemand in Sicht, der Europa mit einem klaren und überzeugenden Konzept aus der Ratlosigkeit und der multiplen Krise herausführen und das Vertrauen der Menschen in Europa zurückgewinnen könnte. In Anbetracht der desolaten Lage wäre dies sowieso ein höchst langwieriger Prozess.

Insbesondere die EU-Kommission als «Hüterin der Verträge» hat keine Führung gezeigt. Sie hat versagt. Sie hätte seit 2010 darauf bestehen müssen, europäisches Recht und die gemeinsamen Regeln einzuhalten, dann wären das Euro-Gebiet und die EU heute in einer völlig anderen Verfassung. Nach dem Verrat am Maastricht-Vertrag wurde auch gegen Schengen und Dublin verstossen. Neben dieser Schwäche der Kommission fehlt es vor allem an politischem Mut und an der politischen Weitsicht, Europas Strukturen zu stärken. Stattdessen ist die Europäische Zentralbank zu einer überaus mächtigen Institution geworden und hat im Versuch, den Zusammenhalt des Euro-Raums zu sichern, ihr Mandat deutlich überschritten.

Die schwindende Akzeptanz Europas bei den Bürgern ist auch bei Wahlen erkennbar. Als Folge der Führungslosigkeit befördern sich neue, leichtgewichtige Kandidaten auf die europäische Bühne, im Versuch, das derzeitige Vakuum zu füllen. In der Tat haben die Wahlergebnisse in Griechenland im vergangenen Jahr sowie kürzlich in Spanien, Portugal und Irland die politische Landschaft Europas verändert. Es gibt also Potenzial für neue Länderkoalitionen. Ziel ist es unter anderem, die als politisches Korsett empfundenen europäischen Haushaltsregeln des Stabilitätspakts nach langer Agonie endgültig abzuschaffen, die sogenannte – zwar nie wirklich praktizierte – «Austeritätspolitik» zu beenden, die Fiskalpolitik zur Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage einzusetzen, Haushaltsdefizite und Verschuldung weiter zu erhöhen und die notwendigen Strukturreformen von der Agenda zu streichen.

Unter Anlehnung an das Schweizer Modell bedarf es einer Neuordnung der Zuständigkeiten unter strikter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips.

Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat sich zum Wortführer einer möglichen neuen Länderkoalition in Europa erklärt. Er hat mehrfach den Führungsanspruch seiner Regierung und die Notwendigkeit eines Politikwechsels in Europa betont. Doch ist diese Forderung eher ein Zeichen der Schwäche und ein Manöver zur Ablenkung von den eigenen tiefgreifenden Problemen als eine wegweisende Option. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Forderung wird immer noch am Zustand und an den Erfolgen eines Landes sowie der Kontinuität seiner Politik gemessen. Oftmals, so auch jetzt, erschöpft sich Reformbereitschaft in reiner Rhetorik. Folglich wird die Reformagenda immer länger. Neben all den ungelösten Problemen Europas, die in der Flüchtlingsfrage zu einer Zerreissprobe eskalieren, erweisen sich zunehmend – oder erneut – auch grössere Länder als zusätzliche und ernstzunehmende Problemfälle. Die eingeforderte Politikänderung im Euro-Gebiet wäre das sichere Rezept, um die Desintegration weiter zu fördern und Europa wirtschaftlich, finanziell, politisch und sozial zu ruinieren!

Umdenken im Krisenmanagement

Richtig ist jedoch, dass die Vielzahl und die Komplexität der europäischen Probleme tatsächlich ein Umdenken im Krisenmanagement und in der europäischen Politik erfordern. Rechtsverstösse dürfen nicht fortgesetzt werden. Dem Recht muss wieder Geltung verschafft werden. Gleichzeitig bedarf es unter Anlehnung an das Schweizer Modell einer Neuordnung der Zuständigkeiten unter strikter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Das wäre eine Basis, um Europa endlich zu einem Projekt der Bürger und nicht der politischen Elite zu machen. Einen derart ehrgeizigen Schritt kann und darf man aber nicht politischen Leichtgewichten überlassen.

Das Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion wurde während der Krise innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Die Geschäftsgrundlage ist damit eigentlich bereits entfallen. Aber im politischen «Sichdurchwursteln» geht es zum Verdruss der Menschen ohne Konzept und ohne Strategie irgendwie weiter.

Der Ökonom Jürgen Stark, Jahrgang 1948, war von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB). Von 1995 bis 1998 war er Staatssekretär im deutschen Bundesfinanzministerium; dort war er massgeblich an der Einführung des Euro beteiligt.