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Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Und schuld ist immer Putin

Hier das helle Europa, regiert von Demokraten, dort das dunkle Russland, beherrscht von einem machthungrigen Teufel. Für alle Übel unserer Zeit soll der russische Präsident verantwortlich sein. Doch diese Analyse ist allzu einfach.

Wenn man den Rechner anmacht: Putin. Wenn man die Zeitung aufschlägt: Putin. Wenn man den Fernseher einschaltet: Putin. Wenn man irgendwo in Europa einen Stein umdreht - wahrscheinlich stößt man auf Putin. Vom Ukraine-Konflikt über die Flüchtlingskrise bis hin zu Pegida: Der russische Präsident wird für alles verantwortlich gemacht, was auf dem Kontinent schiefläuft. Demnächst noch für Merkels Frisur. Putin ist wie ein Geist. Aber wie für alle Geister gilt auch für diesen: Den Putin, den wir überall sehen, den erfinden wir uns selbst.

Putinversteher, das Wort brachte es für eine kurze Zeit zu zweifelhafter Berühmtheit. Während der Ukrainekrise nannte man jene so, die entgegen dem westlichen Kodex dem russischen Präsidenten zugutehielten, auch er verhalte sich mehr oder weniger so vernünftig wie unsere eigenen Leute.

Damals galt Putin dem Westen schlicht als der Mad Man der internationalen Politik. Angela Merkel sagte, er lebe in seiner "eigenen Welt". Das ist vorbei. Heute ist Putin einfach der Teufel.

Die Stimmung ist ja bekanntlich schlecht. Ulrich Wickert weiß auch warum: Die Russen sind schuld. "Ich persönlich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der russische Geheimdienst den Begriff "Lügenpresse" in Deutschland verbreitet hat", sagte der alte TV-Haudegen Wickert in einem Interview.  Der verdutzte Reporter verwies auf Pegida als wahrscheinlichere Quelle des schlimmen Wortes. Wickert entgegnete: "Ja, aber wie kam die Idee dort auf?" Ob er dafür Belege habe, dass der russische Geheimdienst Pegida unterstützt, wurde Wickert gefragt: "Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken!"

So ist vieles, was heute mit den Russen zu tun hat: Man sagt nicht, dass es so ist - aber auch nicht, dass es nicht so ist.

Wir haben das Recht zum Moralisieren verwirkt

Eine unheimliche Atmosphäre der Verunsicherung macht sich breit, ein Fin-de-Siècle-Gefühl. Wir sehen uns umgeben von Spionen und Agenten.

Überall Anarchisten, Agitatoren, Terroristen - und Russen. Wir lesen unsere Gegenwart wie einen Roman aus dem viktorianischen Zeitalter: hier das helle Europa, das vernünftig regiert wird - dort das dunkle Russland, das der Gewalt, der Willkür und den Leidenschaften ausgeliefert ist, und das nach unserem Verderben trachtet.

Tatsächlich ist es irre, wenn der Außenminister des russischen Großreichs, das nicht weniger als elf Zeitzonen umfasst, sich persönlich in den "Fall" eines 13-jährigen Mädchens - einer Deutschrussin - aus Marzahn einmischt, die Stress mit ihren Eltern hatte und darum nachts nicht nach Hause kam. Auf die Idee muss man erst mal kommen.

Andererseits muss man - wie die Briten - auch erst mal auf die Idee kommen, einen 329-Seiten-starken Bericht zu veröffentlichen, in dem es heißt, Putin habe "wahrscheinlich" die Ermordung des früheren russischen Agenten Litwinenko gebilligt. Es finden sich darin keine Beweise dafür - stattdessen aber Litwinenkos Behauptung, Putin hatte Sex mit kleinen Jungen.

Von einem neuen Kalten Krieg sprach der russische Premier Medwedew in München. Wer hat daran ein Interesse?

Ende September sind die Russen in den Syrienkonflikt eingetreten. Nicht einmal sechs Monate später haben die russischen Angriffe das Blatt gewendet. Die russischen Flugzeuge haben Assads Truppen ohne Rücksicht auf zivile Verluste den Weg freigebombt.

Die "FAS" schreibt: "Russland hat eine Trendwende geschafft, die in deutschen Sicherheitskreisen schon 'unumkehrbar' genannt wird." Dabei hatte man uns vorher immer erklärt, es gebe hier keine militärische Lösung. Vielleicht nur keine, die dem Westen genehm gewesen wäre?

US-Senator Dan Coats, früher Botschafter in Berlin, wirft Russland vor, "Migration als Waffe" einzusetzen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zürnt, Putin betreibe in Syrien "doppeltes Spiel". Es möge ihnen allen die Zunge verdorren, die sich jetzt über die Opfer der Angriffe erregen. Fünf Jahre Bürgerkrieg, mindestens 250.000 Tote, mehr als elf Millionen, die ihre Heimat verloren haben - der Westen hat es nicht verhindert. Mit einer Mischung aus Desinteresse, Kalkül und Unfähigkeit haben wir zugesehen, wie Syrien zum Schlachthaus wurde. Das Recht zum Moralisieren haben wir verwirkt.

In Wahrheit dient diese Rhetorik dem Westen dazu, die eigene Aufrüstung in Osteuropa zu rechtfertigen. Denn dieser neue Kalte Krieg, er kommt uns selbst ganz gut zupass. Als Geist, der stets verneint, so brauchen wir unseren Putin! Alles, was man Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, ist sein eigentliches Element? Nicht nur seins.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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