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Neue Schlagkraft: Russlands reformierte Streitkräfte

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Radikale Streitkräftereform Moskaus neue Schlagkraft

Weniger Soldaten, neue Struktur, bessere Waffen: Der Kreml hat seine Streitkräfte radikal reformiert. US-Militärs warnen vor russischen Überraschungsaktionen. Wie groß ist die Gefahr für die Nato?

Russland fliegt Luftangriffe in Syrien, lässt strategische Bomber aufsteigen und setzt alle paar Wochen auf einen Anruf hin Zehntausende Soldaten in Marsch - "unerwartete Überprüfungen der Gefechtsbereitschaft" nennen die Strategen solche Großmanöver. US-Militärs schlagen nun Alarm. Die "New York Times " berichtete Anfang der Woche von Befürchtungen amerikanischer Offiziere, Russland könnte im Konfliktfall das globale Internet lahmlegen. Russische U-Boote operierten verdächtig oft in der Nähe der großen Unterseekabel, schreibt die Zeitung unter Berufung auf namentlich nicht genannte Militärs.

Und Ben Hodges, Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa, warnt ganz offen vor Russlands neuer Schlagkraft. Doch was hat sich verändert? Welche Risiken muss der Westen konkret fürchten, welche nicht?

Moskau sei zu überraschenden Aktionen fähig, kombiniert mit Propaganda und gezielten Falschinformationen ("hybride Kriegsführung"), sagt US-General Hodges. Der Kreml forciere zudem den Aufbau sogenannter "Anti-Access/Area-Denial"-Systeme ("A2/AD"). Dahinter verbirgt sich die Fähigkeit, einem technisch überlegenen Gegner den Zugang zu strategisch wichtigen Gebieten zu verwehren, mit relativ einfachen Mitteln: Flugabwehrsystemen oder Anti-Schiffs-Raketen zum Beispiel.

Russisches Flugabwehrsysten: No-go-Areas im Osten

Russisches Flugabwehrsysten: No-go-Areas im Osten

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Im Konfliktfall könnte Russlands Militär also No-go-Areas schaffen, zu denen Nato-Verbände keinen Zugang haben: das Schwarze Meer zum Beispiel. Die Russen preisen dort die Krim als eine Art "unversenkbaren Flugzeugträger" (Militär-Fachblatt NWO). Im Falle eines konventionellen Konflikts könnten russische Anti-Schiffs-Raketen des Typs "Bastion" Nato-Schiffe bereits kurz nach der Durchfahrt durch den Bosporus versenken.

Radikalste Armeereform seit Ende des 19. Jahrhunderts

Betroffen sind auch Teile der Ostsee. Laut Frank Gorenc, Kommandeur der US-Luftstreitkräfte in Europa, haben die Russen in ihrer Enklave Kaliningrad Flugabwehrraketen stationiert, die tief in Nato-Gebiet reichen können - und ein volles Drittel des polnischen Luftraums abdecken. Dass die Russen dies mit ihrer Fähigkeit kombinieren, "ohne große Vorwarnung große Truppenverbände sehr schnell zu bewegen", sei seine "größte Sorge", so Hodges.

Schon die bloße Existenz von A2/AD-Systemen entwickelt enorme Wirkung. "Sie können die Risikoabschätzungen der USA lange vor dem Beginn einer Operation vergiften", heißt es etwa in einer Zusammenfassung  des Center for Strategic and International Studies (CSIS).

Muss sich die Nato also damit abfinden, dass ihr im Osten ein ebenbürtiger Rivale erwachsen ist - vor dem sich auch die osteuropäischen Mitglieder der Allianz in Acht nehmen müssen?

Die Antwort lautet: Jein. Moskau hat seine Armee in den vergangenen Jahren zwar massiv aufgerüstet. 2010 kündigte Wladimir Putin Waffenkäufe bis 2020 für 500 Milliarden Euro an. Gleichzeitig hat der Kreml die Armee umgebaut. Andererseits hat sie aber auch die Fähigkeit zu raumgreifenden Vorstößen auf Nato-Gebiet praktisch verloren.

Der 2008 begonnene Umbau ist die "radikalste Armeereform seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Russland", sagt Wassilij Kaschin, Experte des angesehenen Moskauer Militär-Think-Tanks CAST. Die Kommandostruktur wurde verschlankt, Tausende Offiziere entlassen, die Truppenstärke verringert, von mehr als einer Million auf heute noch 750.000 Mann. Als der Umbau begann, waren nur zehn Prozent der Ausrüstung und Bewaffnung auf dem neuesten Stand. Bis 2020 sollen es 70 Prozent sein. Stand derzeit: rund 30 Prozent.

Russische Interkontinentalrakete: Modernisierungsgrad von 70 Prozent

Russische Interkontinentalrakete: Modernisierungsgrad von 70 Prozent

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Am besten ausgestattet: die Atomstreitkräfte

Russlands Militär wurde aber nicht einheitlich reformiert. Manche Truppenteile sind noch stark von alter Technik abhängig, andere hochmodern. Das lässt Rückschlüsse auf Moskaus strategisches Kalkül zu.

  • Die Nuklearstreitkräfte haben Priorität. Zur "Abwehr externer Bedrohungen misst Moskau seinen Nuklearwaffen unverändert Priorität" bei, heißt es in einer Studie  der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Atomstreitkräfte sind bestens ausgestattet. Der Modernisierungsgrad hat dort die Marke von 70 Prozent überschritten. Ähnlich gut ausgerüstet: Einheiten der Luftabwehr.
  • Special Forces, Luftlande-Einheiten, Marine-Infanterie: Russland hat - nach dem Vorbild westlicher Armeen - bewegliche Einheiten der leichten Infanterie aufgebaut. Sie können teilweise binnen 24 Stunden bewegt werden. "Speznas" genannte Spezialeinheiten wurden vor der Annexion heimlich auf die Krim verlegt, Marine-Infanteristen im Herbst verdeckt nach Syrien. Ihre Ausrüstung liegt "nahe am Nato-Standard", sagt Mark Galeotti, Sicherheitsexperte der New York University.
  • Das Gros von Flotte und Heer wird ebenfalls besser ausgestattet, sind in Teilen aber noch weit von der 30-Prozent-Schwelle entfernt.

Darin spiegelt sie die Bedrohungslage wider, wie sie der Kreml sieht. Nuklearstreitkräfte und Luftabwehr zielen auf die Nato. Russlands Armee sei heute "wahrscheinlich stärker als alle EU-Armeen zusammen", so Militärexperte Kaschin. Mit der US-Schlagkraft aber könne Russland nicht konkurrieren und setze deshalb auf atomare Abschreckung. Kaschin hält Ängste um Estland, Lettland und Litauen deshalb für unbegründet: "Russland hat keine Kräfte für eine dauerhafte Offensive gegen die Nato. Jeder weiß: Ein solcher Konflikt würde schnell in die nukleare Phase übergehen."

Die leichten Eingreiftruppen hingegen sollen Moskaus Dominanz im postsowjetischen Raum festigen. Russland sieht das Gebiet als seine Einflusssphäre. Das ist einer der Gründe für Moskaus steten Protest gegen Nato-Erweiterungen: Jedes Neumitglied entzieht sich einem potenziellen Zugriff des Kreml.

Russland setzt seine Truppen ein - ohne zu zögern

Potenziell brenzlig ist die Lage vor allem für kleinere Nachbarländer Russlands, die nicht Mitglied der Nato sind. Beim Umbau der Streitkräfte hatte Moskau ursprünglich vor allem Zentralasien im Blick, darin sind sich viele russische Militärexperten einig. Der unabhängige Analyst Alexander Golz sagt, Moskau habe seine Streitkräfte "für Zentralasien umgebaut, nicht für die Ukraine". Ein "Konflikt in Zentralasien gilt als unausweichlich", sagt auch Militärkenner Kaschin. Russland könnte etwa in Tadschikistan eingreifen, sollten dort islamistische Kämpfer aus dem benachbarten Afghanistan einsickern - oder Usbekistan nach dem Tod des greisen Diktators Islam Karimow in Bürgerkriegswirren versinken.

Der Ukrainekonflikt zeigt allerdings auch, dass Russland nicht zögert, auch in Europa militärische Gewalt einzusetzen, wenn es dem Kreml opportun scheint. Mit den modernen Eingreiftruppen hat sich Moskau ein Werkzeug dafür geschaffen. Solange die Nato die kollektive Verteidigung jedes Mitglieds glaubhaft garantiert, stellt jedoch auch Russlands runderneuerte Armee keine reale Bedrohung des Nato-Territoriums da.

Doch die entscheidende Frage lautet: Würde die Nato im Baltikum eingreifen, wenn - wie auf der Krim oder in der Ukraine - ein russischer Angriff nicht sofort als solcher erkennbar wäre? "Wir brauchen eine glaubwürdige Abschreckung", sagte der lettische Nato-Botschafter Indulis Berzinš. "Wir müssen wissen, dass unsere Alliierten bereit sind, uns zu verteidigen und notfalls auch für uns zu kämpfen."


Zusammengefasst: Russland hat seine Armee radikal umgebaut. Priorität bei der Modernisierung hatten die Nuklearstreitkräfte, aber auch bei konventionellen Waffen hat Moskau aufgerüstet. US-Militärs warnen vor allem vor der Fähigkeit, schnell No-go-Areas einrichten zu können - mit strategisch stationierten Flugabwehr- und Anti-Schiff-Raketen könnte Moskau beispielsweise der Nato den Zugang zu Ostsee oder Schwarzem Meer versperren.

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