Zum Inhalt springen

Weltkriegsgedenken Gauck erinnert an Leid sowjetischer Kriegsgefangener

Der Bundespräsident setzt ein Zeichen: In seiner Rede zum Kriegsende gedenkt Joachim Gauck der mehr als fünf Millionen sowjetischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft. Ihr Schicksal liege bis heute im "Erinnerungsschatten".
Bundespräsident Joachim Gauck: Ansprache in Schloss Holte-Stukenbrock bei der Weltkriegs-Gedenkfeier

Bundespräsident Joachim Gauck: Ansprache in Schloss Holte-Stukenbrock bei der Weltkriegs-Gedenkfeier

Foto: Bernd Thissen/ dpa

Das Stalag 326 Senne war ein Ort des Grauens: Mehr als 310.000 Kriegsgefangene - überwiegend aus der Sowjetunion - waren dort interniert, viele von ihnen kamen um, Zehntausende wurden dort begraben. Wenige hundert Meter vom einstigen Kriegsgefangenenlager im westfälischen Schloss Holte-Stukenbrock, rund 20 Kilometer südöstlich von Bielefeld, hielt Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwoch bei einer Gedenkfeier seine zentrale Rede zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 70 Jahren.

Gaucks Schwerpunkt war das Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen. Man erinnere, betonte er laut vorab verbreitetem Redemanuskript, an "eines der größten Verbrechen in diesem Krieg". Rund 5,3 Millionen sowjetischen Soldaten seien von 1941 bis 1945 in deutscher Gefangenschaft gewesen, deutlich mehr als die Hälfte seien umgekommen. "Sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet", sagte Gauck.

Das Staatsoberhaupt erinnerte daran, dass von den Gefangenen der westlichen Alliierten rund drei Prozent umkamen, während Russen, Ukrainer, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Turkmenen und andere Völker der UdSSR zu Hunderttausenden in den deutschen Lagern starben. "Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungskrieg, ein Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant", so Gauck. Auch die Wehrmacht habe sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht.

Gauck dankt sowjetischen Soldaten für Befreiung Deutschlands

Gaucks Rede fällt in eine Zeit außenpolitischer Unsicherheit. Vor allem durch die Kämpfe in der Ostukraine droht ein Rückfall in die Muster des Ost-West-Konflikts, die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sind seit Längerem erkaltet - es ist ein schwieriges Erinnern an das Kriegsende.

Umso deutlicher setzt Gauck mit seiner Rede ein Zeichen für Russland, indem er auch den Beitrag der früheren UdSSR bei der Niederringung des Nazi-Regimes würdigte. "Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf der ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein", sagte das Staatsoberhaupt. "Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können."

Der Bundespräsident, dessen Eltern beide in der NSDAP gewesen waren, dessen Vater nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets verschleppt worden und in der UdSSR vier Jahre in einem Gulag inhaftiert war, setzte sich in Holte-Stukenbrock vor allem mit der Frage auseinander, warum in Deutschland so wenig der Sowjetsoldaten gedacht wird. "Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten", sagte Gauck - eine entscheidende Passage seiner Rede.

Gauck suchte vor den Gästen, darunter der Überlebende, heute 93-Jährige Leo Frankfurt und Angehörige der Familie Basanow - deren Vater, Schwiegervater und Großonkel am Ort des früheren Stalag 326 begraben liegt - nach möglichen Gründen für die bis heute fortwirkende Verdrängung des Leidens. "Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten dachten und an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden", so Gauck.

Auch hätten die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf eigene Schuld verstellt. "Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt", sagte Gauck.

Der Bundespräsident, einst in der DDR evangelischer Pfarrer und in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, ging auch auf die frühere staatliche Gedächtniskultur im Osten Deutschlands ein: "In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete und Geschlagene."

In späteren Jahren, so Gauck, hätte in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die "beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit den anderen Verbrechen überlagert". Dabei, betonte der Bundespräsident, seien doch die Verbrechen des Nationalsozialismus "zutiefst miteinander verbunden".