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Verheugen zur EU-Russlandpolitik Warum Helmut Schmidt irrt

Altkanzler Helmut Schmidt schmäht die EU-Kommission für ihre Politik in der Ukraine-Krise als unfähig. Eine scharfe Antwort kommt nun von Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen. In einem offenen Brief kritisiert er den Parteifreund und attackiert Angela Merkel.
Altbundeskanzler Schmidt: Er teilte gegen EU-Außenpolitiker aus

Altbundeskanzler Schmidt: Er teilte gegen EU-Außenpolitiker aus

Foto: Christian Charisius/ picture alliance / dpa

Es war ein Rundumschlag des Altkanzlers: In einem Interview mit der "Bild"-Zeitung warf er Brüssel jüngst vor, sich zu sehr in die Weltpolitik einzumischen. "Das jüngste Beispiel ist der Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern", sagte der Sozialdemokrat. Falsch sei auch, Georgien an sich zu ziehen. Den Beamten in Brüssel warf er vor, von Außenpolitik zu wenig zu verstehen.

Nun antwortet Günter Verheugen, einst EU-Kommissar, in einem offenen Brief auf den Altkanzler. Darin nimmt er die Brüsseler EU-Bürokratie in Schutz und gibt Kanzlerin Angela Merkel eine Mitschuld an der jetzigen Krise im Verhältnis zu Russland.

Lesen Sie hier den ganzen Brief:

Lieber Helmut Schmidt,

ich teile die große Sorge, die Lage in Europa könnte weiter eskalieren. Dennoch: Es ist schlicht falsch, die EU-Kommission als "größenwahnsinnig" zu bezeichnen, ihr Inkompetenz zu unterstellen und dafür die europäische Außenpolitik gegenüber der Ukraine oder Georgien als Beweis anzuführen. Noch immer sind die Mitgliedstaaten die Herren aller Verträge. Die entscheiden, nicht die Kommission.

Zur Erinnerung: Der Weg zur Assoziierung der Ukraine (und auch Georgiens) an die EU wurde unter deutscher EU-Präsidentschaft im Juni 2007 eingeschlagen. Grundlage dafür war ein Bericht, der - nicht öffentliche - Verhandlungsleitlinien zur Vertiefung der Beziehungen niederlegte sowie ein Beschluss der EU-Außenminister (damals Frank-Walter Steinmeier für Deutschland), den alle EU-Staats- und Regierungschefs billigten.

Unter Vorsitz der deutschen Bundeskanzlerin Merkel wurde der Kommission der Auftrag erteilt, Verhandlungen über vertiefte Beziehungen zu führen und das Mandat definiert. Der europäischen Nachbarschaftspolitik wurde "überragende" Bedeutung zugesprochen. Zudem waren die Staats- und Regierungschefs einhellig der Auffassung, dass das Abkommen mit der Ukraine "Modellcharakter" haben könnte (Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom 21/22. Juni 2007).

Teilnehmerin für Deutschland: die Bundeskanzlerin

Im Juni 2008 wurde durch die EU-Staats- und Regierungschefs die Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen. Diese griff den Wunsch vieler Nachbarländer nach engerer Zusammenarbeit mit der EU auf und beantwortete ihn positiv. Formell von Polen und Schweden vorgeschlagen, hatte die Große Koalition in Berlin dieses Konzept von Anfang an ausdrücklich befürwortet.

Auf einem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs am 7. Mai 2009 in Prag wurde gemeinsam mit Vertretern der östlichen Nachbarländer, einschließlich Ukraine, einschließlich Georgien, folgendes erklärt: "Das Hauptziel der Östlichen Partnerschaft besteht darin, die notwendigen Voraussetzungen für die Beschleunigung der politischen Assoziierung und der weiteren wirtschaftlichen Integration zwischen der Europäischen Union und interessierten Partnerländern zu schaffen." Teilnehmerin für Deutschland: die Bundeskanzlerin. Auch der darauffolgende Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs im Juni 2009 begrüßte das Vorhaben ausdrücklich.

Auf diesen Grundlagen hat die Kommission die Verhandlungen um ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, aber auch mit Georgien und anderen östlichen Nachbarn der EU geführt.

"Warnenden Stimmen wurde nicht zugehört"

Das Abkommen mit der Ukraine wurde im März 2012 paraphiert. Auch dafür brauchte es einen einstimmigen Beschluss aller EU-Außenminister. Das gilt ebenfalls für die Unterzeichnung. Es war zunächst auch nicht die Ukraine, sondern die EU, die die Unterschrift unter dieses Abkommen im Jahr 2012 verweigerte (informell im Mai 2012, offiziell im Dezember 2012). Das kann der Kommission nicht allein angelastet werden.

Die Außenminister, die Staats- und Regierungschefs, ja auch die breite Mehrheit des Europäischen Parlamentes hatten der Ukraine zusätzliche Bedingungen gestellt, darunter, man erinnere sich bitte, die Freilassung von Julija Tymoschenko. Damit hat die EU 2012 eine wichtige europäische Zukunftsentscheidung, die damals völlig unstrittig mit Moskau war, geopfert.

Berlin und andere haben das betrieben, aus purer Parteipolitik, und weil die Ukraine nicht jeden EU-Staat interessierte. Warnenden Stimmen, aus Polen, dem Baltikum, aus Bulgarien, wurde weder im Kreis der Mitgliedstaaten noch im Parlament zugehört.

"Kein Gespräch mit Russland gesucht"

Der Konflikt mit Russland entwickelte sich im Jahr 2013, als beide Seiten, sowohl die USA und die EU auf der einen Seite als auch Russland auf der anderen Seite, die geplante EU-Assoziierung der Ukraine zum geopolitischen Entweder-Oder hochstilisierten. Da haben nicht größenwahnsinnige Beamte oder inkompetente Kommissare mitgemacht, sondern die politisch Verantwortlichen in der Europäischen Union.

Noch im September 2013 hatte die ukrainische Regierung, trotz des Drucks aus Moskau, an der Assoziierung festgehalten und das, obwohl die EU durch ihre Parteinahme für Tymoschenko faktisch den amtierenden Regierungschef zum politischen Gegner erklärt hatte und längst mit der damaligen Opposition in der Ukraine paktierte. Die Haltung der ukrainischen Regierung änderte sich erst, als das Land auch in die wirtschaftliche Schieflage geriet und niemand in der EU das ernst nahm. Zudem hat die EU im Jahr 2013 kein Gespräch mit Russland gesucht, und auch das kann nicht der Kommission allein angelastet werden.

Mit Russland wurde schlicht nicht darüber geredet, was die Assoziierung der Ukraine (und anderer) politisch und wirtschaftlich bedeutet. Russische Bedenken, dass sich dadurch der Handel mit der Ukraine verschlechtern könnte, wurden vom Tisch gewischt. Schließlich gab es eine Analyse aus Deutschland, die das Gegenteil behauptete.

Und zur Wahrheit gehört auch, dass der damalige ukrainische Präsident Janukowytsch die Unterschrift unter die Assoziierung mit der EU im November 2013 in Vilnius zwar aussetzte, aber dennoch Anfang Dezember nach Brüssel fuhr, in der vergeblichen Hoffnung auf finanzielle Unterstützung seines nahezu bankrotten Landes durch die EU. Erst danach fuhr er nach Moskau.

"Nicht auf Bürokratenmist gewachsen"

Auch die nachfolgenden schwerwiegenden Fehler der EU sind nicht auf Brüsseler Bürokratenmist gewachsen. EU-Politiker, nicht Beamte, haben sich offen mit dem sogenannten Euro-Maidan solidarisiert und nicht gesehen oder sehen wollen, dass es sich weder um eine landesweite noch um eine homogene Bewegung handelte. Europäische Politiker erwiesen sich als blind für die innenpolitischen Spannungen zwischen der Ost- und der Westukraine.

Ohne Not wurde die neue ukrainische Regierung nach der Entmachtung Janukowytschs sofort rückhaltlos unterstützt, obwohl diese Regierung noch nicht einmal im eigenen Land das Vertrauen der Mehrheit genießt, antirussisch ist und ihr völkisch gesinnte Kräfte angehören. Weil europäische politische Eliten nur noch in Kategorien wie prorussisch und proeuropäisch denken konnten und den Konflikt statt den Dialog mit Russland bevorzugten, haben sie - und nicht die Brüsseler Bürokraten - die schwerste Krise in Europa in diesem Jahrhundert mit ausgelöst. Ein Gutteil der Verantwortung dafür liegt in Berlin.

"Auch Russland ist Teil Europas"

Aber, und in dem Punkt bin ich einig, solange wir weiter, wie die "Schlafwandler", in dieser Entweder-oder-Ideologie befangen, außenpolitisch durch die Gegend taumeln, verschärfen wir die Lage täglich mit. Prorussisch und proeuropäisch sind keine Gegensätze, denn auch Russland ist Teil Europas.

Das ist übrigens Georgien auch, lieber Helmut Schmidt, einst Teil der griechischen Antike (der Felsen des Prometheus befindet sich im heutigen Georgien). Politisch betrachtet ist Georgien seit 1999 Mitglied im Europarat, dem nur europäische Völker angehören dürfen, mit deutscher Zustimmung übrigens (Regierung Schröder). Es ist Teil der östlichen Partnerschaft, die aus guten Gründen politisch ins Leben gerufen wurde.

Heute hat das georgische Volk Besseres verdient, als nun wegen der Fehler gegenüber der Ukraine und gegenüber Russland geopfert zu werden. Aber auch das zeigt die Krise in der Ukraine: Wir brauchen den "Ring der Freunde" um uns, dringender denn je. Das ist und bleibt der Auftrag an verantwortungsvolle europäische Politik. Und dieser Ring der Freunde bleibt unvollkommen ohne die Ukraine, unvollkommen ohne Georgien, aber auch unvollkommen ohne Russland. Das ist kein Größenwahn, das ist bitterstes Gebot der Vernunft.

Günter Verheugen