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Interview mit Sergej Karaganow Putin-Berater droht mit Vernichtung von Nato-Waffen

Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen? Ist so schlecht wie Ende der Siebzigerjahre, sagt Kreml-Berater Sergej Karaganow im SPIEGEL-Interview. Der Nato droht er unverhohlen. Von Christian Neef
Putin-Berater Sergej Karaganow

Putin-Berater Sergej Karaganow

Foto: Dmitri Beliakov/ DER SPIEGEL

An diesem Wochenende findet in Warschau der Nato-Gipfel statt. Im Zentrum der Beratungen: der Umgang mit Russland. Weil sich Polen und die baltischen Staaten von Moskau bedroht fühlen, will die Nato an ihrer Ostflanke vier Bataillone mit insgesamt 4000 Soldaten stationieren. Russland nennt das eine "Provokation".

Das "Gerede", dass Russland das Baltikum angreifen wolle, sei "idiotisch", sagt der einflussreiche Putin-Berater Sergej Karaganow im Interview mit dem SPIEGEL. "Im Falle einer Krise werden genau diese Waffen vernichtet. Russland wird nie wieder auf seinem eigenen Territorium kämpfen." Und weiter: "Wenn die Nato eine Aggression beginnt - gegen eine Atommacht wie uns -, wird sie bestraft werden."

Er betont, Europa werde für die nächsten Jahrzehnte "kein Modell mehr für Russland" sein. Es sei nicht in der Lage, sich den Herausforderungen der neuen Welt anzupassen. Russland sei "klüger, stärker und entschlossener".

Lesen Sie hier das ganze Interview.

Zur Person
Foto: imago

Sergej Karaganow, Jahrgang 1952, ist Ehrenvorsitzender des einflussreichen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, der Konzepte für Russlands weltpolitische Strategien entwirft und im Mai neue Thesen zur Außenpolitik vorgelegt hat. Dem Rat gehören Politiker, Ökonomen sowie ehemalige Offiziere und Geheimdienstler an. Karaganow ist Berater der Präsidialadministration von Wladimir Putin und Dekan an der Moskauer Eliteuniversität Higher School of Economics.

SPIEGEL: Sergej Alexandrowitsch, die Nato will sich militärisch mehr in Osteuropa engagieren - als Reaktion auf das Vorgehen Russlands in letzter Zeit. Westliche Politiker warnen davor, dass beide Seiten in eine Situation abrutschen könnten, die zum Krieg führt. Ist das übertrieben?

Karaganow: Ich habe vor acht Jahren bereits von einer Vorkriegssituation gesprochen.

SPIEGEL: ...als der Georgienkrieg ausbrach.

Karaganow: Schon damals tendierte das Vertrauen der großen Mächte untereinander gegen null; Russland begann mit der Neubewaffnung seiner Armee. Seither hat sich die Lage extrem verschlechtert. Wir hatten die Nato davor gewarnt, sich den Grenzen der Ukraine zu nähern, weil das eine für uns unannehmbare Situation schaffen würde. Das Vordringen des Westens in diese Richtung hat Russland gestoppt, mittelfristig ist damit hoffentlich die Gefahr eines großen Krieges in Europa gebannt. Aber die Propaganda, die jetzt läuft, erinnert an die Zeit vor einem neuen Krieg.

SPIEGEL: Das beziehen Sie hoffentlich auch auf Russland?

Karaganow: Die russischen Medien sind zurückhaltender als die westlichen. Wenngleich Sie verstehen müssen: In Russland gibt es ein sehr starkes Verteidigungsbewusstsein. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Deswegen diese mitunter massive Propaganda. Aber was macht der Westen? Er verteufelt Russland nur noch, er glaubt, wir drohen mit einer Aggression. Die Situation ist vergleichbar mit der Krise Ende der Siebzigerjahre, Anfang der Achtzigerjahre.

SPIEGEL: Sie meinen die Stationierung der sowjetischen Mittelstreckenraketen und die amerikanische Reaktion darauf?

Karaganow: Europa fühlte sich damals schwach und befürchtete, die Amerikaner würden den Kontinent verlassen. Die Sowjetunion aber, obwohl im Innern bereits völlig verfault, fühlte sich militärisch stark und beging die Dummheit, die SS-20-Raketen zu stationieren. So begann eine völlig sinnlose Krise. Jetzt ist es umgekehrt. Jetzt sollen osteuropäische Länder wie Polen, Litauen oder Lettland dadurch beruhigt werden, dass die Nato bei ihnen Waffen stationiert. Das hilft ihnen aber nicht, wir werten das als Provokation. Im Falle einer Krise werden genau diese Waffen vernichtet. Russland wird nie wieder auf seinem eigenen Territorium kämpfen...

SPIEGEL: ...sondern, wenn ich Sie richtig verstehe, Vorwärtsverteidigung betreiben.

Karaganow: Die Nato ist jetzt 800 Kilometer näher an den russischen Grenzen, die Waffen sind ganz andere, die strategische Stabilität in Europa verändert sich. Alles ist weit schlimmer als vor 30 oder 40 Jahren.

SPIEGEL: Russische Politiker, Präsident Putin eingeschlossen, versuchen die eigene Bevölkerung glauben zu machen, der Westen wolle einen Krieg - um Russland zu zerstückeln. Das ist doch absurd.

Karaganow: Sicher ist das auch Übertreibung. Aber amerikanische Politiker sprechen offen davon, dass die Sanktionen einen Regimewechsel in Russland herbeiführen sollen. Das ist aggressiv genug.

SPIEGEL: Die Abendnachrichten im russischen Fernsehen scheinen weiter von der Wirklichkeit entfernt. Selbst eine Moskauer Zeitung schrieb dieser Tage von einem "Phantom der äußeren Bedrohung".

Karaganow: Die politischen Eliten in Russland wollen keine Reformen im Innern, sie sind dazu nicht bereit. Eine Gefahr von außen kommt ihnen da gerade recht. Sie müssen bedenken: Russland beruht auf zwei nationalen Ideen - der Verteidigung und der Souveränität. Bei uns behandelt man Fragen der Sicherheit weit ehrfurchtsvoller als in anderen Ländern.

SPIEGEL: Selbst russische Experten sehen in der Erweiterung der Nato keine reale Gefahr für Russland. Die Nato war bis zur Krim-Annexion ein Papiertiger.

Karaganow: Ihre Erweiterung wurde als Verrat an Russland verstanden.

SPIEGEL: Ihr Rat hat Thesen zur Außen- und Verteidigungspolitik vorgelegt. Sie reden dort von der Rückgewinnung von Führerschaft in der Welt. Russland will nicht an Macht verlieren, die Botschaft wird klar. Aber welche Vorschläge macht es?

Karaganow: Wir wollen eine weitere Destabilisierung der Welt verhindern. Und wir wollen den Status einer Großmacht. Wir können darauf leider nicht verzichten - dieser Status ist in den vergangenen 300 Jahren zum Teil unseres Erbguts geworden. Wir möchten das Zentrum eines großen Eurasien sein, einer Zone von Frieden und Zusammenarbeit. Zu diesem Eurasien wird auch der Subkontinent Europa gehören.

SPIEGEL: Die Europäer empfinden die jetzige russische Politik als zweideutig. Die Absichten der Moskauer Führung sind ihnen nicht klar.

Karaganow: Wir befinden uns gegenwärtig in einer Lage, in der wir Ihnen nicht im Mindesten vertrauen, nach all den Enttäuschungen der vergangenen Jahre. Also wird entsprechend reagiert. Es gibt so etwas wie das Mittel der taktischen Überraschung. Sie sollen wissen, dass wir klüger, stärker und entschlossener sind.

SPIEGEL: Überraschend war zum Beispiel der russische Teilrückzug aus Syrien. Sie haben den Westen absichtlich im Unklaren darüber gelassen, wie viele Truppen Sie abziehen und ob Sie Teile von ihnen heimlich wieder zurückführen. Vertrauen schafft man mit dieser Taktik nicht.

Karaganow: Das war ein Meisterstück, das war klasse. Wir nutzen unsere Überlegenheit auf diesem Gebiet. Die Russen sind schwache Händler, sie befassen sich nicht gern mit Ökonomie. Dafür sind sie hervorragende Kämpfer. Sie in Europa haben ein anderes politisches System. Es ist eines, das sich nicht den Herausforderungen der neuen Welt anpassen kann. Die deutsche Kanzlerin hat gesagt, unser Präsident lebe in einer anderen Welt. Ich glaube, er lebt in einer sehr realen.

SPIEGEL: Unübersehbar ist die russische Schadenfreude angesichts der Probleme, denen sich Europa jetzt gegenübersieht. Warum?

Karaganow: Viele meiner Kollegen schauen mit Spott auf unsere europäischen Partner, ich ermahne sie immer, nicht anmaßend und arrogant zu sein. Teile der europäischen Eliten haben die Konfrontation mit uns gesucht. Also werden wir Europa jetzt auch nicht helfen, obwohl wir das in der Flüchtlingsfrage könnten. Eine gemeinsame Schließung der Grenzen wäre dringend nötig. In dieser Hinsicht wären die Russen zehnmal effektiver als die Europäer. Aber sie versuchen, mit der Türkei zu dealen, das ist eine Schande. Wir haben angesichts unserer Probleme mit der Türkei eine klare, harte politische Linie verfolgt, mit Erfolg.

SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien von Europa enttäuscht, es habe seine christlichen Ideale verraten. Russland habe in den Neunzigerjahren nach Europa gewollt, aber in das Europa Adenauers und de Gaulles.

Karaganow: Die Mehrheit der Europäer wünscht sich dieses Europa doch auch. Europa wird für die nächsten Jahrzehnte kein Modell mehr für Russland sein.

SPIEGEL: In den Thesen fordert Ihr Rat die Anwendung militärischer Gewalt, wenn "wichtige Interessen des Landes offensichtlich" bedroht seien. Die Ukraine war solch ein Beispiel?

Karaganow: Ja. Oder eine Truppenkonzentration, die wir für eine Kriegsgefahr halten.

SPIEGEL: Die Stationierung von Nato-Bataillonen im Baltikum reicht noch nicht?

Karaganow: Das Gerede, dass wir das Baltikum angreifen wollen, ist idiotisch. Wozu schafft die Nato Waffen und Ausrüstung dorthin? Stellen Sie sich vor, was mit denen im Krisenfall geschieht. Die Hilfe der Nato ist keine symbolische Hilfe für die baltischen Staaten, das ist eine Provokation. Wenn die Nato eine Aggression beginnt - gegen eine Atommacht wie uns -, wird sie bestraft werden.

SPIEGEL: Am Mittwoch soll zum zweiten Mal seit der Krimkrise wieder der Nato-Russland-Rat tagen. Von einer Wiederaufnahme dieses Dialogs halten Sie auch nichts?

Karaganow: Er ist kein legitimes Gremium mehr. Außerdem ist die Nato ein qualitativ anderes Bündnis geworden. Als wir den Dialog mit ihr begannen, war sie ein Verteidigungsbündnis demokratischer Mächte. Doch dann diente der Nato-Russland-Rat zur Deckung und Legalisierung der Nato-Erweiterung. Als wir ihn wirklich brauchten - 2008 und 2014 -, war er nicht da.

SPIEGEL: Sie meinen den Georgien- und den Ukrainekrieg. In Ihren Papieren tauchen Begriffe wie nationale Würde, Mut und Ehre auf. Sind das politische Kategorien?

Karaganow: Das sind entscheidende Werte Russlands. In der Welt Putins und in meiner Welt ist es einfach undenkbar, dass Frauen in der Öffentlichkeit bedrängt und vergewaltigt werden.

SPIEGEL: Sie spielen auf die Silvesternacht in Köln an?

Karaganow: Männer, die so etwas in Russland täten, würden umgebracht. Der Fehler ist, dass Deutsche und Russen in den letzten 25 Jahren nicht ernsthaft über ihre eigenen Werte gesprochen haben - oder sich bei diesem Thema nicht verstehen wollten. Auch wir haben zu sowjetischen Zeiten behauptet, es gebe nur universelle Werte, so wie es der Westen jetzt tut. Mich ängstigt, wenn die Europäer immer mehr Demokratie fordern. Das klingt wie früher, als bei uns immer mehr Sozialismus gefordert wurde.

SPIEGEL: Wo sehen Sie denn Fehler in der russischen Außenpolitik?

Karaganow: Wir hatten in den vergangenen Jahren keine politische Strategie unseren unmittelbaren Nachbarn gegenüber, den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Wir haben nicht verstanden, was da wirklich passiert. Das Einzige, was wir taten, war, diese Länder zu subventionieren und deren Eliten zu kaufen - mit Geld, das dann gestohlen wurde, vermutlich gemeinsam. So gelang es auch nicht, den Konflikt in der Ukraine zu verhindern. Das zweite Problem: Unsere Politik war zu lange auf die Korrektur der Vergangenheit gerichtet, auf die Korrektur der Neunzigerjahre.

SPIEGEL: In der russischen Presse gibt es Vermutungen, Russland werde nach den Parlamentswahlen im September Signale der Entspannung senden. Sind die berechtigt?

Karaganow: Wir meinen, dass Russland moralisch im Recht ist, grundlegende Zugeständnisse von unserer Seite wird es nicht geben. Mental ist Russland inzwischen eine eurasische Macht geworden - ich war einer der intellektuellen Väter der Hinwendung nach Osten. Jetzt aber bin ich der Meinung, wir sollten uns nicht von Europa abwenden. Wir müssen Wege suchen, die Beziehungen wiederzubeleben.