Das Milliardenmonopoly um die Zukunft des Mautsystems Toll Collect spielt im Bundestagswahlkampf so gut wie keine Rolle. Lange sah es so aus, als wolle der Bund das Mautsystem selbst übernehmen. Jetzt zeichnet sich eine Vertragsverlängerung mit Daimler und Telekom ab.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Stuttgart - Das Milliardenmonopoly um die Zukunft des Mautsystems Toll Collect spielt im Bundestagswahlkampf so gut wie keine Rolle. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer versucht den heiklen Dauerstreit mit den Toll-Collect-Eignern Daimler und Telekom totzuschweigen, weil damit keine Sympathiepunkte beim Wähler zu gewinnen sind. Und die Opposition? Die gravierenden Versäumnisse bei der Einführung der Lastwagenmaut und der zugehörigen Verordnung fallen vor allem in die Amtszeit des früheren Verkehrsministers Manfred Stolpe (SPD), der das Ministerium zwischen 2002 und 2005 leitete. Auch in der Großen Koalition bis 2009 verwalteten die Sozialdemokraten das Verkehrsressort. So verwundert es nicht, dass auch die SPD den Mautskandal kaum thematisiert. Dabei gäbe es hierfür hinreichend viele Gründe.

 

Seit neun Jahren wird nun schon gestritten

Daimler und die Telekom bekamen ihr kompliziertes, satellitengestütztes System zunächst nicht in den Griff. Die Mauterhebung begann erst am 1. Januar 2005 und damit 16 Monate später als geplant. Die Folge waren Ausfälle, jeden Monat fehlten eigentlich eingeplante Gebühren in dreistelliger Millionenhöhe. Die Bundesregierung streitet deshalb seit mittlerweile neun Jahren mit Toll Collect vor einem Schiedsgericht um inzwischen rund sieben Milliarden Euro Schadenersatz inklusive Zinsen. Allein die beiden Schiedsverfahren haben den Bund nach aktuellen Angaben schon 111 Millionen Euro gekostet. Ob die Konzerne jemals eine Entschädigung zahlen, ist dennoch unsicherer denn je. Doch es könnte noch schlimmer kommen. Dem Bund drohen Mautrückzahlungen von mehreren Milliarden Euro an Spediteure.

Mittlerweile funktioniert das höchst anspruchsvolle Hightechsystem zwar zuverlässig und spült dem Bund jedes Jahr mehr als vier Milliarden Euro Mauteinnahmen in die Kasse, aber das System gilt als viel zu aufwendig und teuer. Bis Mitte 2011 stellte Toll Collect stolze 4,8 Milliarden Euro als sogenannte Betreibervergütungen in Rechnung. Immerhin ein Viertel davon zahlte der Bund allerdings wegen der Startprobleme zunächst nicht.

Folgeaufträge sind fast vollständig ausgeblieben

Zum erhofften Goldesel ist das teuer entwickelte Mautsystem für Daimler und die Deutsche Telekom, die jeweils 45 Prozent der Anteile halten (die restlichen zehn Prozent liegen bei Cofiroute/Frankreich), dennoch nicht geworden. Daimler-Vorstandsmitglied Klaus Mangold nannte Toll Collect im Jahr 2002, als der Zuschlag erteilt wurde, ein System, „von dem wir glauben, dass wir es weltweit – und ich unterstreiche weltweit – vermarkten können“. Doch bis heute übernahm kein einziges Land weltweit die komplizierte Technik, reihenweise installierten selbst Nachbarländer einfachere und preiswertere Mautsysteme der Konkurrenz. Zum Flop wurde auch die Geschäftsidee, den Spediteuren mit den Erfassungsgeräten für die Lastwagenflotten viele Zusatzangebote zur Navigation und Verkehrssteuerung zu verkaufen. Die erhofften Folgeaufträge sind fast vollständig ausgeblieben.

Technische Defizite kommen hinzu. Die Frage, ob sich Toll Collect für die von Verkehrsminister Ramsauer geforderte Personenwagenmaut eignen würde, wird selbst im Ministerium verneint. Zur Erfassung von 40 Millionen Autos sei das System weder konzipiert noch in der Lage, heißt es in internen Dokumenten. Schon die Ausweitung der Lastwagenmaut auf rund 3000 Kilometer Bundesstraßen soll auch an Beschränkungen des Systems gescheitert sein, nur 1100 Kilometer werden seit August vorigen Jahres ebenfalls erfasst. Für eine streckenabhängige Personenwagenmaut, die auch in Deutschland näher rückt, müsste nach Lage der Dinge also ein völlig neues System aufgebaut werden. Die teure Insellösung Toll Collect ist dafür nicht geeignet.

Der Vertrag hat mehr als 17 000 Seiten – und ist geheim

Der Vertrag mit Toll Collect endet am 31. August 2015. Offenbar gibt es viele heikle Punkte in dem Werk, das einen Umfang von mehr als 17 000 Seiten hat und mit Hilfe der britischen Anwaltskanzlei Freshfields abgefasst wurde, denn bis heute liegt der Kontrakt wie ein Staatsgeheimnis unter Verschluss. Selbst die Volksvertreter des Deutschen Bundestags bekommen nur auf Antrag und unter strengsten Auflagen Einblick. Wer Informationen weitergibt, macht sich strafbar.

Der Staat hat drei Optionen. Erstens könnte der Kontrakt bis zu drei Mal um je ein Jahr verlängert werden. Zweitens könnte die Regierung das Mautsystem übernehmen und in staatlicher Regie weiterführen, etwa durch das Bundesamt für Güterverkehr in Köln. Drittens könnte der Betrieb von Toll Collect oder eines neuen Mautsystems wieder ausgeschrieben werden, was spätestens 2018 gemäß den Vorgaben der EU ohnehin passieren müsste, falls der Staat an privaten Partnern festhält.

Faktisch ist die Frist für eine Neuausschreibung verstrichen

Alle Optionen würden geprüft, heißt es offiziell im Ministerium. Konkrete Anfragen zur Zukunft von Toll Collect werden aber nur pauschal und ausweichend beantwortet. Dabei zeigen auch interne Papiere, dass die Vorentscheidung längst gefallen ist. Der Minister hat sich auf eine einzige Marschroute festgelegt. Demnach können die Eigner von Toll Collect auf eine lukrative Verlängerung des Vertrags hoffen, denn für andere Optionen wird schlicht die Zeit zu knapp, weil Ramsauer bisher nicht gehandelt hat. Zwar endet der Kontrakt erst in zwei Jahren, aber so viel Zeit und Vorlauf bräuchte man auch nach Ansicht der zahlreichen Regierungsberater für eine komplette Neuausschreibung des Systems. Die Frist ist also faktisch schon jetzt verstrichen, da bis zur Bundestagswahl und in den Monaten danach solche Grundsatzentscheidungen erfahrungsgemäß nicht zu erwarten sind.

So bleibt der Regierung nun nur noch die Wahl zwischen der Vertragsverlängerung und der Übernahme des Systems durch den Staat. Ramsauers Fachbeamte schlugen daher schon im vorigen Herbst Alarm. Es bestehe „die Gefahr wesentlicher Einnahmeausfälle“, warnten die Experten in einer fünfseitigen Ministervorlage, die der Stuttgarter Zeitung vorliegt. Die große Sorge der Beamten im Verkehrsministerium: der Bund könnte bei einer Vertragsverlängerung noch abhängiger von den privaten Partnern werden oder ab September 2015 ohne funktionierendes Mautsystem dastehen. Ihr Rat an Ramsauer: der Bund sollte das Mautsystem bis Anfang 2013 übernehmen und später den Betrieb ohne Zeitdruck neu ausschreiben.

Spekulationen über die Eigner Daimler und Telekom

Mit der Übernahme des Systems hätte der Bund wieder Handlungsspielraum und das Heft in der Hand, argumentierten die Experten. Die „Call-Option“ zur Übernahme in Staatsregie sieht der Vertrag mit Toll Collect ausdrücklich vor, wie der Ministervorlage zu entnehmen ist. Dafür reiche sogar eine einseitige Erklärung des Bundes aus, warb Abteilungsleiter Veit Steinle bei seinem Minister für die rasche staatliche Übernahme. Zunächst folgte das Ministerium dem Rat der Experten. Ende vorigen Jahres zeichnete sich nach langen Geheimverhandlungen die große Lösung des Milliardenstreits ab. Demnach sollte der Bund Toll Collect übernehmen und das Schiedsverfahren gütlich beigelegt werden. Die Toll-Collect-Gesellschafter sollten einen Ausgleich von nur 700 Millionen Euro zahlen. Mit den bereits aufgerechneten Beträgen hätte der Bund aber zumindest rund 1,9 Milliarden Euro Wiedergutmachung sowie mit Toll Collect ein zwar teures, aber funktionierendes Mautsystem erhalten.

Auch die Eigentümer hatten auf diese Lösung gehofft, denn wie es in Verhandlungs- und Regierungskreisen heißt, soll zumindest Daimler die Lust an der Lastwagenmaut verloren haben. Zumal das peinliche Schiedsverfahren mit dem Bund seit Jahren das Image der Unternehmen belastet. Inzwischen wird über mögliche Nachfolger wie Siemens und die Allianz spekuliert, die bei Toll Collect einsteigen könnten. Die bayerischen Konzerne können auf eine private Fortführung von Toll Collect hoffen, denn die rasche Übernahme des Mautsystems durch den Staat und die Einigung in den Schiedsverfahren scheiterte schließlich überraschend am persönlichen Veto von Ramsauer. Nach Rücksprache mit dem Minister werde die vorgeschlagene Übernahme von Toll Collect durch den Bund „derzeit nicht weiterverfolgt“, schreiben seine Fachbeamten merklich verstimmt in einer weiteren internen Ministervorlage vom 20. Dezember.

Die nächste Sitzung findet nach den Wahlen statt

Die Dokumente zeigen, dass Ramsauer alle Warnungen seiner Mitarbeiter in den Wind geschlagen und ein Machtwort gesprochen hat. Seine skeptischen Beamten sind folgsam. Man werde zügig Verhandlungen mit Toll Collect mit dem Ziel aufnehmen, den Betriebsvertrag „um drei Jahre zu verlängern“, heißt es in der Ministervorlage. Und weiter: Das Mautsystem werde zwar neu ausgeschrieben, jedoch nicht mehr vor den Bundestagswahlen. Auch die Verhandlungen über die Beilegung der strittigen Schiedsverfahren seien „nach der Entscheidung durch Herrn Minister vom 12. Dezember d. J. beendet worden“. Damit wischte Ramsauer die rasche Übernahme durch den Staat vom Tisch, die im Wahlkampf kritische Fragen zur Bilanz des Mautsystems und der Schiedsverfahren ausgelöst hätte. Nicht nur seine Beamten sehen das mit großer Skepsis.

Durch das Veto Ramsauers mache sich der Bund „wirtschaftlich in fataler Weise von Daimler und der Telekom abhängig“, kritisiert der Verkehrsexperte der Grünen, Anton Hofreiter, Vorsitzender des Verkehrsausschusses des Bundestags. Denn später sei die staatliche Übernahme von Toll Collect kaum noch möglich, ohne hohe Mautausfälle zu riskieren, falls sich die Konzerne querstellen und nicht kooperieren. Bei der nun beabsichtigten Vertragsverlängerung könnten die Unternehmen „jetzt faktisch die Konditionen diktieren“, warnt der Politiker. Die Toll-Collect-Probleme sollen den Wählern offenbar so lange wie möglich verborgen bleiben. Als wahltaktisches Manöver kann man auch den Termin für die nächste Sitzung des Schiedsgerichts werten. Erst am 30. September, und damit nach den Bundestagswahlen ( 22. September), soll der peinliche Milliardenstreit um das schiefgelaufene Projekt wieder verhandelt werden.