Die westlichen Medien haben kaum davon Notiz genommen: Am 1. Januar ist die Eurasische Wirtschaftsunion ins Leben getreten – Wladimir Putins Gegenmodell zur Europäischen Union. Eine Bedrohung des Westens? Eine Schimäre des Kremlherrschers? Ein nicht unvernünftiger Versuch, dem wirtschaftlich auch 13 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer eng verflochtenen postsowjetischen Raum einen ersprießlichen Rahmen zu schaffen – oder ein Anlauf, durch die Hintertür der Ökonomie die Wiederauferstehung der Sowjetunion zu bewerkstelligen?

Zunächst einmal die Fakten. Gründungsmitglieder der neuen Union – die aus der 2010 gebildeten Eurasischen Zollunion hervorgegangen ist – sind Russland (140 Millionen Einwohner, 2.100 Milliarden Dollar Bruttoinlandsprodukt), Belarus (9,5 Millionen, 72 Milliarden), Kasachstan (14 Millionen, 178 Milliarden), Armenien (3 Millionen, 10 Milliarden). Der Beitritt Kirgistans (15,5 Millionen, 850 Millionen) wird im Mai erwartet. Tadschikistan (8 Millionen, 8,5 Milliarden) ist ein weiterer Beitrittskandidat. Nicht dabei, wie vom Kreml erhofft, ist jedoch die Ukraine mit ihren 45 Millionen Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von 178 Milliarden Dollar.

Diese Zahlen enthüllen schon die erste Schwäche des ehrgeizigen Vorhabens: Es bringt wenig Gewicht auf die Waage – bevölkerungspolitisch gerade einmal ein Drittel der EU und ökonomisch nicht einmal ein Sechstel. Mit der Ukraine als Mitglied hätte es etwas besser ausgesehen, aber daraus ist trotz aller Anstrengungen Putins nichts geworden.

Doch die Schwäche der neuen Einheit liegt nicht nur in den Zahlen. Entscheidender ist, dass es ihr an innerem Zusammenhalt fehlt. Unterschiedliche Interessen und gravierende Meinungsverschiedenheiten überlagern die Gemeinsamkeiten. Wohl teilen nicht nur die Diktatoren Lukaschenko in Belarus und Nasarbajew in Kasachstan Putins autoritäre Herrschaftsmethoden; doch seine Vasallen wollen sie nicht werden. Zudem plagt sie die Sorge, die russische Wirtschaftskrise könnte auch ihre Länder nach unten ziehen. Daher halten sie Abstand.

Dies gilt zumal für den Kasachen Nasarbajew. Er nimmt für sich, falls der Gründungsvertrag der Union von Moskau missachtet werden sollte, das Recht in Anspruch, die Mitgliedschaft zu kündigen. Mal um Mal betont er, dass es sich um eine Wirtschaftsunion handle, nicht um einen politischen Zusammenschluss (die Idee einer solchen Union hatte er 1994 zum ersten Mal ventiliert; jetzt beharrte er darauf, dass der Begriff "Wirtschaft" in den Titel der Union aufgenommen wurde. Und nicht von ungefähr misstraut er Putin: Ein Viertel der kasachischen Bevölkerung sind Russen, zu deren Schutzherr sich Putin aufschwingt. Dessen Ausspruch "Kasachstan war noch nie zuvor ein Staat" kann Nasarbajew nur als Drohung empfinden. Deswegen hat er sich auch gehütet, die Annexion der Krim zu billigen. Und weder beteiligt er sich an den Sanktionen, mit denen Moskau auf die westlichen Embargomaßnahmen reagiert hat, noch an den Handelsbeschränkungen gegenüber der Ukraine.

Auch der belarussische Präsident, sonst in vieler Hinsicht so abhängig von Russland wie gefügig vis-à-vis dem Kreml, verurteilt Putins Ukrainepolitik. Den Anschluss der Krim erklärte er für "nicht rechtens". Es sei nicht akzeptabel, dass ein Staat einem anderen einen Teil seines Territoriums abnehme: "Dann müsse man praktisch das ganze russische Hoheitsgebiet Russlands an die Mongolei zurückgeben." Auch er schloss sich Putins Gegensanktionen nicht an. Eine absolute russische Vorherrschaft in der Union will Lukaschenko so wenig wie die anderen Unionsmitglieder.

Angesichts solcher Unvereinbarkeiten erscheint die Befürchtung ziemlich unbegründet, dass die Eurasische Wirtschaftsunion die erste Stufe zur Wiederbelebung des untergegangenen russischen Imperiums ist. Vielmehr darf man sie durchaus als die sachlich begründbare Institutionalisierung eines aus der Geschichte legitimierten Kooperationsverbandes verstehen, der wirtschaftlich Sinn ergibt – und der außerdem seit 2002 schon in der Organisation des Vertrages über Kollektive Verteidigung (OVKS) sicherheitspolitisch flankiert ist; Kasachstan beherbergt den russischen Weltraumbahnhof Baikonur, in Tadschikistan liegt eine russische Division, und in Kirgistan unterhält Moskau vier Stützpunkte.

Da außer Belarus alle Mitglieder der neuen Union mehr Handel mit der EU oder China treiben als mit Russland, wird es Putin auch schwerlich gelingen, sie gegen die Brüsseler Gemeinschaft in Stellung zu bringen. Selbst Moskau wird es schwer fallen, sich aus der vielfältigen Verflechtung mit Europa zu lösen, so sehr der Kremlherrscher auch darauf aus sein mag, sein Unionsprojekt zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontramodell zur Europäischen Union zu stilisieren.

Die russische Wirtschaftskrise – Verfall des Ölpreises, drastische Abwertung des Rubels, steigende Inflation, sinkende Investitionsrate, Devisenabfluss ins Ausland – bringt Putin unter Druck. Es kann nicht sein Ziel sein, Russland zur Tankstelle Chinas zu machen. Daher wäre es an der Zeit, ihn an die ursprüngliche Idee der Eurasischen Union zu erinnern, wie er sie selbst im Oktober 2011 in einem Iswestija-Artikel formuliert hat. Danach sollte die Union kein vom Westen abgeschottetes, Europa den Rücken zukehrendes Projekt sein, sondern der Partner der EU bei der Schaffung eines gemeinsamen Integrationsraumes, der sich, die europäischen und die pazifischen Märkte verbindend, von Lissabon bis zu den Kurilen erstreckt.

Warum diesen Gedanken nicht aufgreifen, dazu den vor einigen Jahren von Medwedew angeregten Gedanken einer überwölbenden Sicherheitsarchitektur für denselben Raum? In solch einem erweiterten Gesprächsrahmen ließe sich wohl am ehesten eine Regelung auch der ukrainischen Frage finden.