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Ausland Debalzewe

„Die Toten mussten wir liegen lassen“

Erschöpft und desillusioniert: Ukrainische Soldaten verlassen im Reisebus das Kampfgebiet nahe der Kleinstadt Debalzewe im Osten des Landes Erschöpft und desillusioniert: Ukrainische Soldaten verlassen im Reisebus das Kampfgebiet nahe der Kleinstadt Debalzewe im Osten des Landes
Erschöpft und desillusioniert: Ukrainische Soldaten verlassen im Reisebus das Kampfgebiet nahe der Kleinstadt Debalzewe im Osten des Landes
Quelle: REUTERS
Rund 2500 ukrainische Soldaten konnten sich aus dem Kessel von Debalzewe retten. Viele stehen noch stark unter dem Eindruck der Kämpfe und erheben schwere Vorwürfe gegen die eigene Armeeführung.

Das Grauen liegt hinter ihm, zumindest für den Moment. „Heute war meine erste Nacht ohne Beschuss seit Wochen“, sagt der ukrainische Feldwebel Jewgeni Russadow. „Aber es war so still, dass ich nicht schlafen konnte.“ Die Nacht zuvor, seine letzte in der ostukrainischen Stadt Debalzewe, hat er noch in einem Unterstand unter Mörserbeschuss verbracht. „Wir haben einfach nur gehofft, diese Nacht und den nächsten Tag zu überstehen“, erinnert sich Russadow, der sich in die ostukrainische Stadt Artjomowsk gerettet hat.

Der Feldwebel und seine Soldaten haben gewusst, dass ihr Überleben im Kessel unter Beschuss allein von Glück und ihrem eigenen Zutun abhinge. Auf Hilfe von außen brauchten sie nicht zu hoffen. „Der nächste Checkpoint hatte uns schon am Dienstagabend mitgeteilt, dass wir aus Debalzewe abziehen werden“, erzählt er. „Sie sagten uns, Artillerieunterstützung durch die ukrainische Armee wird es nicht geben.“ Von allen ukrainischen Soldaten, die sich am Mittwoch aus Debalzewe retten konnten, hatten Russadow und seine Kameraden den längsten Weg zu gehen. Sie waren südlich der Stadt stationiert, in der Nähe der Dörfer Olchowatka, Kamyschatka und der Kohlengrube Poltawskaja. „Unsere Verletzten haben wir alle mitgenommen“, erzählt Russadow. „Aber die Toten mussten wir liegen lassen. Und es waren viele in den letzten Tagen.“

Ukrainische Truppen ziehen aus Debalzewe ab

Nachdem die Rebellen Debalzewe eingenommen haben, ziehen sich die ukrainische Truppen aus der umkämpften Stadt zurück. Poroschenko verurteilte die Offensive als "zynischen Angriff".

Quelle: Reuters

Auf ihren überhasteten Rückzug nahmen die Soldaten nur das Nötigste mit, sogar einen Teil ihrer Waffen mussten sie zurücklassen. Um halb sechs Uhr morgens am Mittwoch formierte sich eine Kolonne aus Lastern, Panzern und Schützenpanzern. Sie machten sich auf den Weg über Felder, doch nach fünf Kilometern geriet die Kolonne unter heftigen Beschuss und brach auseinander. „Es herrschte Panik, jeder hat sich gerettet, wie er konnte, viele Soldaten flohen zu Fuß“, erinnert sich Russadow. „Ich habe gesehen, wie russische Panzer unsere Soldaten überfahren haben.“

Die Flucht durch das Gebiet, das von prorussischen Separatisten kontrolliert wird, habe mehrere Stunden gedauert – obwohl es von der Distanz her nur 30 Kilometer waren. Immer wieder wurden die Männer beschossen, so berichtet es der Feldwebel. Erst gegen Mittag kam sein Schützenpanzer am ersten ukrainischen Checkpoint an.

Zurück Richtung Kiew: Ukrainische Soldaten rollen die Fahne ihrer Einheit zusammen
Zurück Richtung Kiew: Ukrainische Soldaten rollen die Fahne ihrer Einheit zusammen
Quelle: Ross McDonnell

Russadow hat sich am Donnerstag in Artjomowsk zum ersten Mal seit Wochen gewaschen und den Kopf rasiert. Doch die Erinnerungen an das Erlebte lassen ihn nicht los. Sein Blick ist trübe und abwesend. Und die Wut auf die eigene Armeeführung groß. „Ich haben aus dem Fernsehen erfahren, dass es ein planmäßiger und organisierter Abzug gewesen sein soll“, sagt er. „Aber dann muss ich woanders gewesen sein.“

Seine Einheit sei zwei Wochen lang von der Versorgung abgeschnitten gewesen. Statt von ihrer eigenen Armee bekamen die Soldaten Lebensmittel von den Dorfeinwohnern. Während der ganzen Zeit habe der Beschuss durch die Separatisten nie aufgehört. „Wir haben unsere Stellung bis zum letzten Moment gehalten – und wurden dann zurückgelassen“, sagt Russadow und kann seine Enttäuschung nicht verhehlen. Er ist 44 Jahre alt und kommt aus Kiew, erst im Sommer hatte ihn die ukrainische Armee eingezogen. Jetzt sagt er: „Das ist nicht unser Krieg.“

Alkohol gegen die Erinnerungen

In der Stadt Artjomowsk versammeln sich seit Mittwochabend erschöpfte und traumatisierte Soldaten wie Russadow, die sich aus Debalzewe retten konnten. Abends versuchen die Männer, ihre Erinnerungen mit Alkohol zu verdrängen. Das kann gefährlich werden, wie sich in einem der Restaurants zeigt. Zu später Stunde löst sich dort ein Schuss aus einer Maschinenpistole. Ein großer Soldat mit Tränen in den Augen lehnt an der Bar. Er erzählt, er habe am Mittwoch einen Freund im Gefecht verloren.

Der Hass auf die russische Armee ist hier mit Händen zu greifen. Sie unterstützt die Separatisten mit moderner Technik, so sagen es die ukrainischen Soldaten. Nicht nur bei Feldwebel Russadow, auch bei den Soldaten an der Bar ist die Unzufriedenheit mit der eigenen Armeeführung deutlich zu spüren.

Einpacken und nach Hause: Für diese Ukrainer sind die Kämpfe in Debalzewe vorbei
Einpacken und nach Hause: Für diese Ukrainer sind die Kämpfe in Debalzewe vorbei
Quelle: Ross McDonnell

Rund 2500 Soldaten konnten am Mittwoch aus dem Kessel um Debalzewe fliehen. Wie viele in der Stadt zurückblieben, lässt sich nicht sagen. Nach offiziellen Angaben der ukrainischen Armee hat der Großteil der Soldaten die Stadt bereits verlassen. Doch aus den Einheiten und dem medizinischen Dienst ist zu hören, dass noch Hunderte Soldaten im Kessel stecken. Dafür würde sprechen, dass auch am Donnerstagmorgen aus der Richtung von Debalzewe ständiger Beschuss zu hören war.

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Die ukrainische Armee behauptet, beim Truppenabzug am Mittwoch seien 13 Soldaten ums Leben gekommen, 157 verletzt. 90 Ukrainer seien als Kriegsgefangene genommen worden, 82 würden noch vermisst. Der medizinische Dienst der Armee will das im inoffiziellen Gespräch so nicht bestätigen. Er spricht von 44 getöteten Soldaten beim Rückzug. Alle befragten Soldaten in Artjomowsk äußern Zweifel an der offiziellen Statistik. Das Vertrauen in die öffentlichen Verlautbarungen aus Kiew hat gelitten, besonders nachdem die ukrainische Führung dementiert hatte, dass die Truppen in Debalzewe eingekesselt sind. Dabei wissen hier alle, dass die Separatisten die Zufahrtsstraßen nach Debalzewe bereits seit Tagen kontrollieren. Die Versorgung der ukrainischen Armee sei nur noch über die Feldwege möglich gewesen und zuletzt gar nicht mehr. Die Straßen um Debalzewe herum seien von den Separatisten vermint worden.

Poroschenko will UN-Friedensmission

Die Rebellen haben die ostukrainische Stadt Debalzewe eingenommen und so eine Verbindung zwischen den Hochburgen Donezk und Luhansk geschaffen. Petro Poroschenko fordert jetzt eine UN-Friedensmission.

Quelle: N24

„Unser Präsident sagte, wir seien nicht eingekesselt gewesen. Wie kann ich ihm danach noch glauben?“, sagt Alexander Ostrowski. Der 31-jährige Soldat aus der Westukraine verbrachte Wochen im Dorf Olchowatka südlich von Debalzewe, wo die Versorgung schon lange problematisch war. Er ist mit rund 30 anderen Soldaten auf einem Panzer über die Felder geflohen. Seine Haare sind noch zerzaust und verstaubt, die Augen eitrig. Sein Finger fühlten sich bis jetzt wie erfroren an, weil er sich über mehrere Stunden am kalten Metall des Panzers festgehalten habe. „Ich habe die ganze Zeit das Vaterunser gebetet“, sagt Ostrowski.

Einen Teil ihrer Technik mussten die Ukrainer in der umkämpften Stadt zurücklassen. Auf den ersten Bildern aus Debalzewe am Donnerstag waren zerstörte Laster und Panzer zu sehen. Andrij, Hauptmann einer Artillerieeinheit, sagt: „Wir konnten unsere Kanonen nicht mitnehmen, also haben wir sie unschädlich gemacht, damit sie nicht mehr benutzt werden können.“

Erschöpfter Kämpfer: Ein ukrainischer Soldat, der sich aus Debalzewe retten konnte
Erschöpfter Kämpfer: Ein ukrainischer Soldat, der sich aus Debalzewe retten konnte
Quelle: REUTERS

Seine Soldaten retteten sich am Mittwoch mit Lastwagen. „Wir wurden auf dem Weg von Panzerhaubitzen und mit Grad-Raketen beschossen“, sagt Andrij. Er wird gleich mit einem Kameraden einen Bus besteigen, der sie in die Heimat bringen soll. Urlaub vom Krieg, das ist es, wonach sich hier alle sehnen. Zuvor schmücken die Männer aber noch ihren Armeelastwagen mit den zerschossenen Windscheiben, sie befestigen ukrainische Fahnen daran. Sie feiern, dass sie lebendig aus Debalzewe herausgekommen sind.

Die Zweifel am Sinn der ganzen Mission aber bleiben. „Ich frage mich, wofür wir gekämpft haben“, sagt der Soldat Sergej Luk. „Wir hätten eigentlich schon vor zwei Wochen aus Debalzewe abziehen sollen.“ An die Waffenruhe glauben die Soldaten hier schon lange nicht mehr. Die Separatisten werden es mit der Einnahme von Debalzewe nicht bewenden lassen, sind die Kämpfer überzeugt. „Wer weiß, was ihr nächstes Ziel ist?“, fragt Luk. „Mariupol? Oder Kiew?“

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