WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Print
  3. DIE WELT
  4. Politik
  5. "Ja, ich bin ein Patriot"

Politik

"Ja, ich bin ein Patriot"

Michail Chodorkowski erkennt keinen Unterschied zwischen "Jurist Wladimir Putin" und "Bandit Josef Stalin"

Michail Chodorkowski ist der wohl berühmteste Häftling Russlands. Seit seiner Verhaftung vor fast acht Jahren ist der frühere Unternehmer, Oligarch und ehemalige Vorstandsvorsitzende des heute insolventen Ölkonzerns Yukos zum Lackmustest russischer Gerichtsbarkeit geworden. Unserer Autorin Henriette Schroeder ist es gelungen, über Chodorkowskis Anwaltsteam Fragen in das Gefängnis zu schicken, die der 47-Jährige bereitwillig beantwortet hat.

Die Welt: Der polnische Publizist Adam Michnik hat einmal über den russischen Physiker, Dissidenten und Nobelpreisträger Andrej Sacharow gesagt: "Protest gegen die unrechtmäßige Politik seiner Regierung war seine Form des Patriotismus." Würden Sie sich als Patriot in diesem Sinne bezeichnen?

Michail Chodorkowski: Das Ansehen und die Zukunft meines Landes sind mir nicht gleichgültig. Ich bin bereit, einen hohen Preis für die Verteidigung meiner Position zu zahlen, also was ich in Bezug auf Russland für richtig halte. Ja, in diesem Sinn bin ich ein Patriot.

Die Welt: Während Ihres Gerichtsprozesses haben Sie gesagt: "Die Hoffnung ist das Wichtigste im Leben." Worauf können Sie noch hoffen?

Michail Chodorkowski: Meine Hoffnung besteht im Glauben an mein Land und darin, dass wir unseren Weg zur Demokratie, zur Achtung des Menschen und zur Rechtsstaatlichkeit fortsetzen werden.

Die Welt: Der Prozess gegen Sie und Ihren Partner Platon Lebedew erinnert an die Schauprozesse in den 30er-Jahren, als Diktator Josef Stalin das Urteil festlegte und das Gericht dann seine Entscheidung bestätigte. Es scheint sich seither kaum etwas geändert zu haben ...

Michail Chodorkowski: Ich habe die Resolutionen von Stalin gelesen: "Vor Gericht stellen und erschießen." Ich habe die Worte von Ministerpräsident Wladimir Putin gehört: "Er muss im Gefängnis sitzen." So legte er im Voraus das zweite Urteil gegen mich fest. Jurist Putin und Bandit Stalin interpretieren die Unabhängigkeit des Gerichtes auf gleiche Art und Weise.

Die Welt: Ist wenigstens Präsident Dmitri Medwedjew ernsthaft an Reformen interessiert, oder spielen er und Putin "good cop, bad cop?

Michail Chodorkowski: Medwedjew hat eine demokratische Gesinnung, und er will die Reformen fortsetzen. Es ist aber viel zu wenig, sich einfach nur Reformen zu wünschen, man muss sie auch mit Leben füllen. Wenn man unter "Putinismus" sanften Totalitarismus, die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von Rohstoffen, die archaischen Methoden der Verwaltung versteht, so existiert selbstverständlich eine bessere Alternative dazu. Russland ist ein Land mit europäischer Kultur, es entwickelte sich historisch mit den europäischen Ländern zusammen. Die jetzige Etappe kann man als "Triumph der Reaktion" bezeichnen, sie ist oft während Revolutionen zu beobachten. Das "Pendel der Freiheit" schlug wohl vor der Krise 1998 am stärksten aus, blieb dann stehen und schwang wieder zurück. Wahrscheinlich waren die Jahre 2008 bis 2009 die "Wende". Seit dieser Zeit steht das Pendel wieder still.

Anzeige

Die Welt: Der Kommunismus hat die Zivilgesellschaft in Russland zerstört. Sie haben die Wiedergeburt der Zivilgesellschaft unterstützt, das sollte doch in einem Land, das sich von 70 Jahren Totalitarismus erholt, begrüßt werden. Warum ist Putin so rachsüchtig?

Michail Chodorkowski: Putin ist kein Kommunist, sondern Autokrat, er ist Anhänger des Staatskapitalismus. In vielen europäischen Ländern konnte Anfang des vorigen Jahrhunderts Ähnliches beobachtet werden. Noch vermeidet Putin den Einsatz "extremster Mittel". Aber er akzeptiert eine einflussreiche unabhängige Opposition nicht, die in einem pluralistischen Staat selbstverständlich ist. Ich bin Anhänger des Systems der "checks and balances", das eine starke Zivilgesellschaft ausmacht.

Die Welt: Einige sagen, der kommunistische Geheimdienst KGB war ein "Staat im Staat", und jetzt seien der Inlandsgeheimdienst FSB und die "Silowiki" (Vertreter der Geheimdienste und der Armee, Anm. der Redaktion) der "Staat selbst". Stimmen Sie zu?

Michail Chodorkowski: Die Clique der sogenannten "Silowiki" um Putin ist der Pfeiler des heutigen Regimes. Die politischen Machthaber sind sich dieser Gefahr durchaus bewusst, lehnen aber die zivile Kontrolle, die in demokratischen Ländern üblich ist, ab. Denn dies würde tatsächlich den Übergang zu einem alternativen politischen Modell bedeuten. Ein "charismatischer Silowik" an der Macht war der Albtraum dieser Herrscherelite - und er ging mit Putin in Erfüllung.

Die Welt: Es scheint, dass die Mentalität der "Silowiki" mit ihren antiwestlichen Einstellungen in der russischen Gesellschaft beliebt ist. Warum?

Michail Chodorkowski: In schweren Zeiten werden die "Feinde" im In- und Ausland gesucht und dem Volke vorgeführt - dieses Vorgehen scheint allgemein üblich und sehr effektiv zu sein. Russland ist in diesem Sinn keine Ausnahme. Die "Realpolitik", die häufig von der europäischen politischen Elite praktiziert wird, hat viele engagierte Menschen in Russland enttäuscht und den Glauben an die Aufrichtigkeit der im Westen propagierten Werte erschüttert.

Die Welt: War der Transfer des finanziellen Vermögens von den Oligarchen an die "Silowiki" unvermeidlich?

Anzeige

Michail Chodorkowski: Eine Rückkehr zum autoritären Modell war unvermeidlich. Für die "Oligarchen der ersten Stunde" war das Erlangen politischer Macht tatsächlich kein Ziel. Wir alle gehörten sozusagen zur Mannschaft des ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, wir waren im Kampf für die Demokratie vereint und organisiert. Natürlich sind wir nicht vollkommen. Der eine ist mutiger, der andere feiger ... Aber um ein echter "Oligarch" zu werden, muss man kein Demokrat sein. Es gelang aber weder Jelzin noch uns, ein unabhängiges demokratisches Modell zu schaffen - leider.

Die Welt: Was ist mit der Menschenrechtsbewegung, den unabhängigen Journalisten und Bürgerrechtlern passiert, die während der Perestroika überall in Russland arbeiteten? Wo sind sie heute?

Michail Chodorkowski: Viele sind emigriert, einige wurden gekauft, eine neue Generation ist noch nicht nachgewachsen. Man lässt sie nicht im Fernsehen auftreten, verwehrt ihnen den Zugang zu Finanzquellen. Aber sie geben nicht auf, sind im Internet und veröffentlichen.

Die Welt: Sie sind in der UdSSR geboren und aufgewachsen, sie waren Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes. Wie und wann haben Sie über Pluralismus und freie Marktwirtschaft erfahren und nachgedacht?

Michail Chodorkowski: Das Verständnis für die Wichtigkeit von Meinungspluralismus und den Respekt vor alternativen Positionen habe ich meinem Hochschulrektor und Boris Jelzin zu verdanken. Die Mechanismen der modernen Demokratie hat mich der amerikanische Kongressabgeordnete und Ex-Insasse eines NS-Konzentrationslagers Tom Lantos gelehrt. Die modernen Marktmechanismen habe ich durch die Zusammenarbeit mit westlichen Firmen und ausländischen Mitarbeitern meiner Firma erlernt.

Die Welt: Was hat Ihre Opposition zu Putin ausgelöst?

Michail Chodorkowski: Der Moment, in dem ich begann, die Politik von Putin abzulehnen, war die Zerschlagung von NTV - dem führenden unabhängigen Fernsehsender. Ich kann seine Methoden des Kampfes gegen die Opposition nicht akzeptieren. Er hat begonnen, das autoritäre Regime wiederherzustellen, und führt das Land zum Staatskapitalismus oder, genauer gesagt, zum bürokratischen Kapitalismus, der auf "Füttern", auf einem System von Korruption und Bevormundung, basiert. Es hat nichts mit dem zu tun, wofür ich seit 1990 gekämpft habe.

Die Welt: Der russische Schriftsteller Warlam Schalamow, der 18 Jahre Gulag überlebte, hat geschrieben: "Das Lager ist eine negative Schule vom ersten bis zum letzten Tag für jedermann. Dort gibt es vieles, was ein Mensch nicht wissen darf, nicht sehen darf, und wenn er es gesehen hat, sollte er besser sterben." Auch Sie haben einige Jahre in einer sibirischen Besserungskolonie verbracht. Was denken Sie, wenn Sie diese Zeilen lesen?

Michail Chodorkowski: Die Werke von Warlam Schalamow haben mir geholfen, das Wesen des Systems zu verstehen, dessen Erben ich in die Hände fiel. Vieles hat sich geändert, aber die Prinzipien im Lager - das Streben nach moralischer Vernichtung der Persönlichkeit etwa - sind geblieben.

Die Welt: Waren Mitglieder Ihrer Familie als Gefangene im Gulag?

Michail Chodorkowski: Zum Glück wurde keiner aus meiner Familie verhaftet oder verfolgt. Meine Familie ist übrigens ziemlich interessant. Mein Großvater hat am Bürgerkrieg teilgenommen, er war Bolschewik. 1924 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, weil er sich mit meiner Großmutter in einer Kirche trauen ließ. Die Großmutter stammt aus einer reichen Adelsfamilie. Ihr Vater blieb in Russland nach der Revolution. Aber das Schicksal hat ihn verschont. Meine Eltern haben die sowjetische Macht gehasst, aber vor mir ihre Gefühle verheimlicht. Dies habe ich zum ersten Mal wahrgenommen, als meine Mutter auf meine Arbeit im Komsomol sehr heftig reagierte.

Die Welt: Können Sie etwas über Ihr Leben in der Besserungskolonie erzählen? Viele haben die Werke von Solschenizyn und Schalamow gelesen, wissen aber kaum etwas von den Bedingungen in den heutigen Lagern Russlands.

Michail Chodorkowski: Die Kolonie ist nicht der beste Ort zum Leben, aber viel besser als das Gefängnis, in dem ich sechs von acht Jahren verbracht habe. Man schuf für mich "besondere Bedingungen". Der Chef der Kolonie hat noch im Gerichtssaal gesagt, er habe Befehl, "mir das Leben zu erschweren". Einer der Häftlinge, die mich bespitzeln sollten, hat mich einmal in der Nacht mit dem Messer angegriffen.

Die Welt: Sie haben geschrieben, dass Sie im Gefängnis viel lesen. Was lesen Sie? Helfen Ihnen Bücher, mit der Situation zurechtzukommen? Wie gelingt es Ihnen, Ihre Würde zu bewahren?

Michail Chodorkowski: Neben Zeitungen und Zeitschriften lese ich nur Fiktion und Fachliteratur. Die Fachliteratur brauche ich für die Arbeit. Ich lese kaum Bücher, die sich mit Strafrecht beschäftigen, da dieses Gebiet so absurd ist, dass es keiner ernsten Forschung bedarf. Gleichzeitig versuche ich, Artikel zu schreiben. Jetzt beschäftige ich mich mit den Fragen der staatlichen Verwaltung. Belletristik lenkt mich ab und lässt mich eine Reise in eine Welt außerhalb meiner Zelle antreten. Für heute habe ich "Königin Margot" zum Lesen oder vielleicht "Die Hexen von Eastwick" - manchmal lese ich mehrere Bücher parallel. Für die Arbeit liegen auf meinem Tisch die Schriften Toynbees und eine Sammelausgabe über politische Psychologie. Was die Würde betrifft, so ist sie nicht schwer zu bewahren. Heute hungert oder friert man nicht mehr im Gefängnis. Es kränken mich nur noch die Gemeinheiten am Geburtstag oder vor den Feiertagen. Die jungen Menschen ertragen das Leben im Gefängnis viel schlechter. Viele haben keine Selbstdisziplin, es gibt für sie nicht viel, an das sie sich erinnern oder worüber sie nachdenken können. Die Älteren überstehen diese Schwierigkeiten leichter. Nur die Familie geht einem nicht aus dem Kopf.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant