Den meisten deutschen Zeitungen war die aufregende Meldung keine Erwähnung wert. Selbst die FAZ ließ es bei 13 Zeilen über die Erklärung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker bewenden. Dabei hatte in sich, was Juncker in einer Rede in Den Haag von sich gab. Wörtlich sagte er: "Die Ukraine wird definitiv in den nächsten 20 bis 25 Jahren kein Mitglied der EU werden, und auch kein Mitglied der Nato."

Man reibt sich die Augen. Die Ukraine, noch auf Jahrzehnte weder Mitglied der Europäischen Union noch der Atlantischen Allianz? Holla. Die Aufnahme des geplagten und gespaltenen Landes in die EU und die Nato ist doch das erklärte Ziel der Regierung in Kiew. Die EU-Mitgliedschaft stellte Brüssel den Ukrainern in Aussicht, sobald sie die Voraussetzungen dafür geschaffen haben und die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen. Und unter amerikanischem Druck halten die Bündnispartner bisher ja auch an dem Fernziel fest, das Land in ihre Militärallianz einzubeziehen.

Zwar ist die EU drauf und dran, Ukrainern Visumsfreiheit zu gewähren; auch führte die Nato im Jahre 2015 militärische Manöver im Westteil des Landes durch – eine "show of force" gegenüber Russland, wie es hieß. Und Brüssel wie der Weltwährungsfonds wollen Milliarden zur Verfügung stellen, um der maroden ukrainischen Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Doch nun sagt der EU-Kommissionspräsident, sich herausnehmend, zugleich für die Nato zu sprechen, das alles sei "kein Vorläufer der Mitgliedschaft".

Juncker sprach in der Hauptstadt der Niederlande, wo die Bürger am 6. April darüber abstimmen, ob sie das Freihandelsabkommen – Teil des Assoziierungsabkommens von 2014 – zwischen der EU und der Ukraine billigen oder verwerfen. Offenbar wollte der Kommissionspräsident den zunehmend europaskeptischen Niederländern ihre Sorge nehmen und verhindern, dass sie zum zweiten Mal nach der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages im Jahre 2005 "Nee" zu Europa sagen. Ein solches Nein, erklärte er, könne die Tür zu einer "kontinentalen Krise" öffnen – noch einer Krise, als hätten wir derer nicht schon genug.

Aus diesem Grund sagte Juncker eine Wahrheit, die sonst eisern beschwiegen oder geleugnet wird: Die Ukraine ist noch lange nicht in einem inneren Zustand, der es erlaubte, sie in die westliche Familie aufzunehmen. Bei Lichte betrachtet ist sie ein failing state oder gar schon ein failed state – ein marodes, kleptokratisches, von bestechlichen Bürokraten und milliardenschweren Oligarchen für ihre eigenen Zwecke ausgeplündertes Staatswesen.

Die Korruption blüht. Die Justiz ist zum Handlanger der Machtmafia geworden. Der Rechtsstaat funktioniert nicht. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Präsident Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk sind einander spinnefeind. Aufrechte, aufräumungswillige Minister treten zurück. Reformen kommen nicht vom Fleck. Die Bereitschaft, das Minsker Abkommen buchstabengetreu zu erfüllen, ist minimal. Weder ist ein Wahlgesetz verabschiedet noch dem Donbass per Verfassungsänderung mehr Autonomie eingeräumt worden.

Junckers Anfall rückhaltloser Aufrichtigkeit

Dies gilt gewiss auch für die Separatisten in der Ostukraine, aber an Sturheit lässt sich die Kiewer Regierung zum Ärger von Berlin und Paris nicht übertreffen. Auch die Mahnungen des US-Vizepräsidenten Joe Biden sind ungehört verhallt: "Wenn die Ukraine weitere Fortschritte machen soll und die Unterstützung der Staatengemeinschaft behalten will, muss sie weit mehr tun."

Zu Zeiten der Barroso-Kommission und unter US-Präsident George W. Bush wurde den Ukrainern zugemutet, sich zu entscheiden: für Russland oder für den Westen, die EU und die Nato. Das Land war in dieser Frage gespalten, in den Ereignissen wurde es zerrissen. Es wurde versäumt, die Ukraine als beider "nahes Ausland" zu sehen, neutral zwischen Ost und West, anstatt sie um jeden Preis ins eigene Lager zu ziehen.

Jean-Claude Junckers Haager Anfall rückhaltloser Aufrichtigkeit kommt dem späten Eingeständnis gleich, dass dies ein schwerer Fehler war. Aus einer Kommerzfrage wurde dadurch ein strategischer Wahlzwang. Ein Interessenausgleich mit Russland wurde nie versucht. Darin aber lag der Keim der Krise. 

Interessenausgleich mit Russland suchen

Die Frage ist jetzt, ob der Westen – und da vor allem die EU – aus Junckers Einsicht handfeste Konsequenzen zieht. In erster Linie die Konsequenz, der Ukraine nicht nur zu erlauben, bei der Brüsseler Gemeinschaft anzudocken, sondern sie auch wieder in das geschichtlich gewachsene Beziehungsgeflecht mit Russland einzuweben. Dies wäre nicht Appeasement, Unterwerfung unter russische Ambitionen, sondern ein realpolitischer Ansatz zum Interessenausgleich mit Moskau.

Denn nach wie vor gilt Henry Kissingers Befund: "Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, dann kann sie nicht der Vorposten des einen gegen den anderen sein – sie sollte vielmehr als Brücke zwischen ihnen dienen. (…) Die Ukraine als Objekt einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, hieße auf Jahrzehnte hinaus jede Chance vertun, Russland und den Westen (besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System einzubringen."