Mächtigste Frau der Welt? Von wegen! – Seite 1

Theo Sommer, 85, war von 1972 bis 1992 Chefredakteur der ZEIT, danach ihr Herausgeber bis zum Jahr 2000. © Jakob Börner

Es ist noch nicht lange her, dass Angela Merkel als "mächtigste Frau der Erde", als "Europe's most powerful politician", als "Merkiavelli der deutschen Politik", als "heimlicher Hegemon der EU" dargestellt wurde – gefeiert von den einen, gefürchtet von den anderen.

Die Flüchtlingskrise hat diese Sichtweise auf die Bundeskanzlerin als haltlosen Mythos enthüllt. Sie hat gezeigt, dass die Macht der deutschen Kanzlerin nur so lange etwas bewirkt, wie sie das Scheckbuch zu zücken vermag. In der griechischen Schuldenkrise hat dies noch funktioniert. Jetzt jedoch, wo die Bundesregierung etwas von den europäischen Partnern will und deren Einverständnis nicht länger mit Geld erkaufen kann, funktioniert es nicht mehr. Europa lässt Angela Merkel schändlich im Stich.

"Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg", sagte sie, als es darum ging, Griechenland zu retten. Nun muss sie feststellen, dass sie im Flüchtlingsdrama dieses Herbstes ziemlich allein dasteht. Und da den meisten EU-Partnern der Wille zu solidarischem Helfen gänzlich fehlt, erweisen sich auch die der Bundeskanzlerin vorschwebenden Wege zu einer Lösung als nicht gangbar. Es sind lauter Sackgassen.

Willkommensselige Kanzlerin unerwünscht

Etwa die faire Verteilung der Ankömmlinge auf alle 28 EU-Staaten. Die meisten sperren sich dagegen, vor allem die Osteuropäer. Sie sperren sich schon jetzt, wo es nur um 160.000 Flüchtlinge geht, nicht um die bereits angekommene Million. Soll doch Deutschland die Bürde tragen, dessen willkommensseliger Kanzlerin sie die Schuld daran in die Schuhe schieben, dass nach wie vor Zigtausende durch Staub und Schlamm, Hitze und Kälte den Weg nach Norden suchen. Es fällt schwer, zu glauben, dass der jüngste Wochenendgipfel in dieser Hinsicht grundsätzlich Wandel schafft.

Nicht anders steht es um die Bemühung, jene Länder, die im Nahen und Mittleren Osten an die fünf Millionen Flüchtlinge in gigantischen Zeltlagern beherbergen, dazu zu bekommen, die Ausreisewilligen am Weiterziehen zu hindern. Das gilt in erster Linie für die Türkei, vor dessen autoritärem Präsidenten die Kanzlerin und die EU in realpolitisch verständlicher, doch gleichwohl moralisch beschämender Dienstfertigkeit tief in die Knie gegangen sind. Erdoğan kostet seinen Triumph genüsslich aus – und lässt sich Zeit. Zugleich lässt die Hilfe der Europäer für den Libanon und Jordanien auf sich warten, ebenso wie die personelle Bestückung der Auffangzentren in Griechenland und die Verstärkung der EU-Grenzschutzagentur weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt.

Als Sackgasse erweist sich bisher auch die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Syrien-Konflikts, die Millionen von Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat gestatten könnte. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat in der bismarckschen Tradition des "ehrlichen Maklers" versucht, einen Ausgleichsprozess in Gang zu bringen. Es ist ihm nicht gelungen – Sackgasse auch hier.

Was also tun?

Russland und Türkei als Mitspieler betrachten

Auf der europäischen Ebene bleibt der Bundesregierung wohl nichts anderes übrig, als auf die Einbeziehung aller Partner bei der Bewältigung des Flüchtlingselends zu setzen. Sollte sie aber weiterhin im Stich gelassen werden, so wird sie andere Saiten aufziehen müssen: kein Appell mehr, auf den keiner hört. Besser die Gelder, die wir für die Aufnahme, Versorgung und Integration der Flüchtlinge benötigen, von unseren Überweisungen nach Brüssel abziehen – besonders, soweit dies geht, die für die Drückebergerstaaten bestimmten Gelder.

Allerdings drängt sich, sollte die Unterstützung ausbleiben, eine weitere Konsequenz auf: Wir müssen dann mit Merkels "humanitärem Unilateralismus" (Constanze Stelzenmüller) aufhören, müssen den Zuzug begrenzen und den Familiennachzug um Jahre verschieben. Vielleicht werden wir auch um ein zeitweiliges Zuzugsmoratorium nicht herumkommen, wenn wir das entstandene Chaos bändigen und darüber hinaus verhindern wollen, dass immer mehr wohlmeinende Bürger den Glauben an die Handlungsfähigkeit der Regierung und damit den Glauben an die Demokratie verlieren.

Was das Schlüsselland Türkei angeht, so sollte die Bundesregierung einen entscheidenden Schritt weiter gehen. Die CDU-Kanzlerin sollte Ankara bedeuten, dass ihre Partei nicht länger den EU-Beitritt der Türkei behindern und bloß eine "privilegierte Partnerschaft" zulassen will, sondern dass sie eine Vollmitgliedschaft des längst assoziierten Landes unterstützt, sobald es die drei Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllt: Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Minderheitenschutz; funktionierende Marktwirtschaft, freier Wettbewerb, Konkurrenzfähigkeit im Binnenmarkt; ferner die Fähigkeit, sich die aus der EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen.

Dies schlösse einerseits eine defekte Demokratie à la Erdoğan aus und würde andererseits den vielen freiheitsliebenden Türken Auftrieb geben. Eine Garantie für größere und beschleunigte Kooperationsbereitschaft wäre damit freilich nicht verbunden. Trotzdem ist es einen Versuch wert.

Drei Problemzonen, drei Sackgassen

Schließlich die Nahost-Wirren: Hier muss der Bundesaußenminister seine Bemühungen, neuen Spielraum zur Beendigung der Kämpfe in Syrien zu schaffen, unverdrossen fortsetzen. Er sollte sich dabei weder durch amerikanische Zögerlichkeiten noch durch Wladimir Putins Eigenwilligkeiten bremsen lassen. Dass Putin durch sein militärisches Eingreifen in Syrien zu einem Schlüsselakteur geworden ist, eröffnet nach Jahren westlicher Unentschiedenheit eher eine Chance, dass eine Verhandlungslösung näher kommt. Wobei es wenig Sinn hat, Russland nur als einen Störfaktor zu begreifen. Es ist eine mittelöstliche Macht, seit Katharina die Große 1768 ihre baltische Flotte durch die Straße von Gibraltar gegen die Ottomanen ins östliche Mittelmeer schickte; im Kalten Krieg waren Syrien und der Irak seine engsten Verbündeten; und sein Interesse, den islamistischen Terrorismus fernzuhalten, der in Tschetschenien, in Dagestan und selbst in Moskau schon genug Unheil angerichtet hat, sollte jedem einleuchten. Es ist kein Eindringling, sondern ein Mitspieler.

Ein russisch-amerikanischer Stellvertreterkrieg in Syrien, bei dem jeder seine Lieblingsziele bombardiert, dient der Herstellung des Friedens so wenig wie der iranisch-saudische Stellvertreterkrieg. Teheran und Riad an den Verhandlungstisch zu bringen, ist ebenso das Gebot der Stunde, wie Putin einzubinden in den Versuch, Syrien diplomatisch zu befrieden, anstatt ihn weiter zu isolieren.

Europa, Türkei, Syrien – drei Problemzonen, drei Sackgassen. Davon, ob es gelingt, sie zu öffnen, wird es abhängen, ob Angela Merkel als die ohnmächtigste oder doch als die mächtigste Staatsfrau Europas in die Geschichte eingeht.